30.3.1968

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Aufzeichnung vom 30.3.1968

Jetzt weiß ich, daß die Westdeutschen den Krieg verloren haben, denn sie knien vor der Kunst des Siegers, – ein Zitat aus der Gegenwart.
Mit Pinsel, Leinwand, in Ölfarbe malen, ist vollkommen überholt und veraltet, – ein weiteres Zitat der Gegenwart.
Die einzige Kunst der Welt kann nur vom reichsten Land der Welt kommen, dem Lande des Dollar. Auch ein Zitat!
Die Bewunderung des Siegers von 1945 hat 1968 drei Haken:
der Dollar ist fragwürdig, die Rassenunruhen, der Vietnam-Krieg. In diesem Netz fangen sich zur Zeit in Westdeutschland einige Leute. Der europäische ›Nihilismus‹, von einigen wenigen USA-Designern in den alten amerikanischen Positivismus verwandelt, wird in Westdeutschland eine Weltanschauung.
Es gibt kein Kriterium für die Kunst unserer Zeit, es gibt nur die persönliche Überzeugung! Auch ein Zitat.
Frankreich wehrt sich mit seinem Humanismus, der von Intellektualität – Rationalität geformt ist. Der Deutsche hat dank seiner großen Geister des beginnenden 19. Jahrhunderts diese Entwicklung nicht genommen und wuselt immer noch im Mythisch-Magischen herum. Durch diesen Berg mußte man sich also hindurchfressen, wenn man in unserer Zeit als Künstler lebte.
Daraus kam – mit zwei Systemen entwickelt – das »farbig gesättigte Ornament«, das nicht dekorativ eingesetzt wird. Eben nicht dekorativ!! Da liegt die Chance zur Kunst der Gegenwart, zur Bildwirklichkeit. Und es gibt Kriterien für die Kunst unserer Zeit. Die Kriterien kommen aus den Parallelen von Kunst und Naturwissenschaft, den beiden formbildenden Kräften der Gegenwart. Parallelen! Nichts berührt sich, nichts geht von einer Seite zur anderen über. Hier ist nur Kunst, dort ist nur Physik und Mathematik, Materie, dann Materie und Energie, dann Funktion, dann allein Energie, so die Physik. Euklid, d.h. Geometrie, Raum, Perspektive, drei Dimensionen, dann nichts mehr davon, sondern Logistik und Zahl, so die Mathematik.
Material, Material und Gestik, Funktion, Bildwirklichkeit als Tatsache an sich, als Kunst schwingend, die Kunst. Geometrie fallt fort, Raum fallt fort, Perspektive fällt fort, Gegebenheiten gibt es nicht. Es wird erfunden – das Bild, erfunden mit Hilfe des Spiels, der erfundenen Logik, der kontrollierenden Zahl – die Kunst.

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von E.W.Nay