1.2.1935

1

Aus einem Brief an Carl Georg Heise

[…] Der Darss[1] und seine Umgehung haben mich restlos gefangen. Ganz großartig, urwüchsig, jetzt im Winter so verschlossen und einsam, daß es innerlich sehr aufregend war. Ich versuchte erstes Niederschreiben dortiger Dinge und brachte 12 Aquarelle mit. In dieser Woche nun sitze ich am fünften Bilde, der letzten Fassung: Meer bei Sturm, zwei Segelboote. Ich habe so recht gewütet und frei und unbekümmert losgelegt und denke vorläufig ganz bei diesem Grundthema zu bleiben. Endlich geht mir ein Licht auf: das elementare Meer.

In den Abendstunden las ich Burckhardt und bin sehr davon eingenommen. Grundlegendes über die Krise fesselte mich besonders. Und ich bin mir jetzt über die Krise in der Malerei klar geworden. Ressentiment, Romantik, Sentimentalität, Verherrlichung der Würde des Menschen (Humanismus), das wird alles überwunden vom Erleben der Realität des Seins. Der Mensch ein Stück der Natur, nicht der Herr der Natur. Die Bindung an das mythische Urwesen läßt uns die wahre Realität der Natur erkennen. Das Bild nicht als Schilderung äußeren Daseins (des Scheins), nicht Schilderung innerer individueller Emotionen, das Bild als Gestalt des Seins, realer als jedes noch so realistische oder naturalistische Bild. Die nordisch-germanische Welt wird dieses Bild entwickeln, während der Süddeutsche, der die Schule der römisch-griechischen Kultur stärker in sich trägt, die oben genannten zu überwindenden Gebiete der Kunst zu eigen hat – daher die Unmenge ›höfischer‹ Kunst aus Süddeutschland. In Hercules Seghers Radierungen ist die wahre Realität enthalten. In Cimabue und Giotto von Asien her spürbar. Von den Neueren in Kirchner und als Ahnung bei Schmidt-Rottluff. In Klee als Reflexion. In Max Ernst – Doch auch hier allermeist durch Reflexion überdeckt. Im Westen in Cézanne, van Gogh und ab und zu in Picasso. Bei Picasso kaum als Ursprüngliches, sondern wohl nur als an anderen Kulturen Begriffenes.

Wir können uns nicht aufspielen und die Natur nach unserem Willen uns zurecht machen, wir können die Natur nur beobachten, erleben, warten, daß sie uns zu sich läßt, warten bis wir eingehen in die Natur, um dann aus ihr heraus das Bild zu formen, das wird dann ein Bild des Seins sein. Nicht Sinnbild, Seinsbild, ontisches Bild.

Und kurz mein eigenes Tun:

Autodidaktischer Anfang, Lehrzeit, nachfolgend Bruch mit der sich einnistenden Konvention, Wanderung in das Nichts. Grübeleien, nach Jahren erste Ansätze in Rom: Reflexionen sind Gestalt geworden. Dann später Überwindung der Reflexion. Die Reflexion zeigte als großes Ergebnis den Grundort, von dem ausgegangen werden muß: die mythische Bindung. Weiterhin nach dieser ›Kur‹ volle freie Gestaltung auf der Grundlage der mythischen Gebundenheit. Vom ›Abstrakten‹, dem der äußeren Natur Entfernten, zur inneren Natur, von der inneren Natur zur zweiten Realität, der des Seins, das ist keine Metaphysische, keine realistische Ausdrucksweise, das ist keine kosmische Frage, das ist Einssein im Wesen. Das ist keine Primitivität, das ist Ausdruck höchster Kultur, wenn man als Kulturblüte eine Zeit ansieht, in der der Mensch sich seiner Wesenszugehörigkeit bewußt wird. […]


[1]     Halbinsel an der Ostsee.

Über den Autor

von E.W.Nay