1931

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Aus einem Brief an Paul Westheim
Publiziert in: ›Das Kunstblatt‹ ,XV. Jg., Heft 4, Berlin 1931, S. 97-98

[…] Die Anfänge liegen eigentlich bei meinen allerersten künstlerischen Ansätzen. Es kam notwendigerweise die Schule (Hofer) dazwischen. Ich sah ein, daß man erst lernen muß, ehe das Eigentliche gesagt werden darf. Schließlich waren alle Fächer leer, was mir überhaupt bei fast allen Heutigen der Fall zu sein scheint. Sie sind Maler, aber keine Künstler. Durch allerdings sehr laienhafte Beschäftigung mit Parapsychologie taucht ein neuer Weg auf, da zugleich ein stetig wiederkehrender Hang zur Mystik und ein Fühlen dämonischer Kräfte außer uns anlockte.

»Die Sinnlosigkeit der Kunst« ist nur deshalb heute ein Schlagwort, weil die Kunst keine Werte mehr enthält, die über unseren Zusammenhang mit übersinnlichen Kräften Aufschluß suchen. Und diese Kräfte, der Wunsch, sie zu suchen, steckt heute im heutigen Menschen (ebenso wie sie stets eigentlicher Kunstinhalt sind). Ich suchte Inhalt. Zuerst ›Hinrichtung‹, ein literarisches Thema, das ich allerdings gänzlich unliterarisch aber doch mit einer greifbaren, gewohnten Dämonie malte. Dann das ›Liebespaar‹ in erster Fassung der ›Hinrichtung‹ ähnlich. Dann Landschaften am Meer, in denen ich immer wieder versuchte, eindeutigere, einseitigere Bilder zu machen. Mußte mich aber auf realistische Bildform beschränken, da ich noch nicht so weit war.

Dann sah ich im Theater Barlachs ›Blauen Boll‹[1] (komisch, werden Sie sagen, aber ich wills Ihnen erklären und hoffe, daß Sie das ebenso ernst nehmen wie ich. Außerdem ist Kunst, solange man sie ergrübelt und macht, ganz ganz persönlich.) Im ›Blauen Boll‹ war auf mysterienhafte, ganz Barlach-private Weise durch Zuhilfenahme der Religion eine Mystik geäußert, wie sie heute im Menschen latent ist. »Boll muß Boll [neu] gebären.« Dasselbe erlebte ich in Lübeck vor Memling[2], dessen Altarbild (über die Qualität streiten sich Fachleute, was mir wurscht ist) eine unerhörte kühle Geistigkeit und mystische Durchsichtigkeit besitzt. (Für mich – nun gut!)

Picasso, Lurçat, Max Ernst und Klee deuten eine Weg an, der nicht ein Ende ist, sondern wie anno dazumal der Expressionismus ein Anfang.

Leute wie Masson, Miró schieben diesen Anfang leider sofort wieder ans Ende. Denn was den vier oben Genannten Kunst ist, wird bei den anderen Literatentum. Bei der schwierigen Definierbarkeit solcher Werke merkt das natürlich fast niemand.

Was ich will:

Deutung der übernatürlichen, doch als organisches Gesetz in uns vorhandenen Welt. Dieses organische Gesetz entwickelt die Bildideen. So daß das Ich eine Marionette wird. Wie kam ich faktisch darauf, d.h. als malender Künstler?

Die ›ausgefallene‹ Idee, eine Liebesszene so zu malen, daß daraus ein zwangs­weises Naturgeschehnis entsteht, führte zu einer Bildform, die mit der bisherigen nichts mehr zu tun haben konnte. Ich mußte mich vom Rahmen, d.h. von der optischen Welt lösen, das Gebilde schwimmt im Raum, ist nicht mehr Zentrale oder Dezentralisierung der Fläche. Wie mich überhaupt alle bisherigen Malereiprobleme nicht mehr interessieren, sondern neue auf neuem Grund auftauchen. (Der Fehler bei Masson sind die alten Probleme.) Ich mußte zweitens Formen finden, die meiner mystischen Vorstellung so nahe wie möglich kamen, um das zu sagen, was mir vorschwebte. Diese Formen entstehen aber ohne aktiv persönliches Zutun eindeutiger, näher an der Vorstellung. Und der Inhalt ist, wie im alten Testament mythologisch so schön gesagt ist: »Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.«

Es handelt sich hier um etwas, das lediglich nur durch Malerei ausgedrückt ist. Also ist auch nicht ein Körnchen Literatur daran. Literarische Deutung unmöglich.


[1]     Drama von Ernst Barlach, Uraufführung: Stuttgart 1926.

[2]     Memlings ›Passionsaltar‹ von 1491, St. Annen-Museum, Lübeck.

Über den Autor

von E.W.Nay