8.11.1934

8

Aus einem Brief an die Reichskulturkammer in Berlin

[…] Vielleicht ist man höheren Orts der Meinung, ich mache abstrakte Kunst. Nun bin ich allerdings schon seit Jahren der Ansicht, daß abstrakte Kunst ein Unsinn, zum mindesten ein Unding ist. Und wenn man meine Kunst abstrakt genannt, so fühlte ich mich stets voll und ganz mißverstanden. Abstrakte Kunst, das heißt bestenfalls Bemühung allein um die Form. Als ob es das überhaupt gäbe, jedenfalls gäbe im nordeuropäischen Kulturkreis. Form um der Form willen – das ist ein Unding. Aber ein Erlebnis formen, einer inneren Regung durch die Form Ausdruck zu geben, das ist nicht abstrakt, nicht nihilistisch. Und hierbei weder in frühere Jahrhunderte hineinzugeraten, noch in Sentimentalität oder Mondschein- oder sonstige Romantik zu verfallen, dazu gehört Mut zur Wahrheit. Dazu gehört, scharf darauf zu achten, daß das Erlebnis eindeutig und klar zutage tritt, nichts darüber und nichts darunter, nicht verklebt mit Gefühlchen. Dazu gehört »heilige Nüchternheit«, Hölderlins Forderung. Dazu gehört, daß das Erlebnis zentral ist, das heißt, genährt aus der großen Einheit von Körper, Seele und Verstand, aus der mythischen Bindung. Diese Dreiheit ist Geist. Und von diesem Geist zu zeugen, [ist] der Sinn des Kunstwerks. Noch sind alle Quellen heillos verstopft, aus denen die Einheit kommt, und erst »bei den Müttern« sind sie wieder zu entdecken, und es bedarf vieler Opfer, Mühen und Versuche, ehe diese Quellen wieder fließen.

Und die Mittel der Kunst, die Malerei – in meinem Falle? Seit und durch Dürer ist die deutsche Tradition abgebrochen. Nachahmung ist Schwindel. Aber die vordürersche deutsche Kunst und vieles von Dürer, bevor er in Italien fremden Einflüssen sich beugte, geben uns die Erkenntnis der dem deutschen Wesen angemessenen Formung. Den Sinn dieser Formsprache zu verstehen, das Wesentliche deutscher Formung zu erkennen, darauf kommt es an, nicht aber zu kopieren.

Andererseits die Antike: Helena erscheint (Faust II) im Drudenfuß, den Faust von den Müttern heraufholt. Die große Einheit, die Harmonie erscheint nicht ohne den Weg zu den Müttern, ohne die mythische Bindung. Das ist unweigerlich Seinsgesetz, das man nicht verändern, nicht beschleunigen kann. Man kann einen Wasserhahn aufdrehen und glauben, die Quellen fließen, es ist aber nur die Wasserleitung.

Und das sind keine Programme, das sind Ideen, die in aller Kunst der Menschheit treibende Kraft und sichtbar sind. Und da helfen auch keine Programme. In langem Kampf, den viele zu bestehen haben werden, wird es gelingen, das freie Fließen der mythischen Kräfte wiederzugewinnen. –

Ich wollte Ihnen dies ohne Zweckabsicht mitteilen. Es sind Gedanken, die ich mir nirgendwo angelesen habe, die ich aus meiner Arbeit gewonnen habe. Ich wollte Ihnen dieses – Bekenntnis vorlegen, um Ihnen zu sagen, daß ich an meinen Auftrag fest glaube und daß ich es für natürlich halte, daß man mich jetzt noch nicht verstehen kann. Auch daß ich noch unerhörte Aufgaben im Sinne dieses Auftrages bewältigen muß. […]

Über den Autor

von E.W.Nay