15.12.1966

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Aus einem Brief an Oto Bihalji-Merin

[…] Wegen meiner Definition von der Beziehung der Realität zur Wirklichkeit – eine für mich wichtigste Frage, lege ich Ihnen meinen Picasso-Artikel bei, den ich auf Wunsch der ›Süddeutschen Zeitung‹ zu Picassos Geburtstag geschrieben habe. Sie werden in diesem Artikel auch einige deutliche Abweichungen von Picassos Ideen finden, direkte Ablehnungen, z. B. über Humanität und eben über Realität als Wirklichkeit, da deren Übereinstimmung nicht mehr besteht. – Dann möchte ich noch sagen, daß ich in meiner Kunst die Extreme ›exzentrisch und still‹ sehe, das heißt besonders in den neuen Bildern. Und die Kombination von Kultur und Atavismus. Sehr wichtig ist mir die Realität des Bildes, des Bildes, das Anschauung allein ist und nur so erlebt und gesehen werden kann. Das Künstliche als Bild tritt als Anschauung zutage und schaltet beim Betrachter spontan die Reflexion aus.

Das Lebendige ist der Mensch, das ist die eine Seite, die andere ist das Künstliche des Bildes. So also mache ich eine an sich rein artistische Leistung, wenn ich ein Bild male, es möge aber – dies ist nicht die Absicht, aber die Grundlage meines Daseins – von selbst als Anschauung, also im reinen Mittel Kunst sein, das heißt, im Geformten Gegenwart, menschliche Gegenwart sein. – Ich bin überzeugt, daß dies eine wunderbare Sache ist, ich nenne ein solches Bild Wirklichkeit. Ich lasse also nichts aus, bleibe im Künstlichen, Artistischen und zugleich, ohne das ›Lebendige‹ mit dem Künstlichen zu vermischen, vermanschen, bleibe ich im Menschlichen. Die Formensprache ist jetzt so einfach, daß die Ablesbarkeit jedem möglich ist. Das Artistische, das Künstliche ist im Sinne der modernen Liberation der modernen Kunst zu verstehen. Dazu bin ich der Meinung, daß die heutige Kunst (und ich will Kunst und nicht Verdinglichung) parallel zur modernen Physik verläuft, daß beide, Kunst und Wissenschaft, parallel laufend den Menschen von heute formen, darstellen, daß beide sich aber nie direkt berühren oder beeinflussen können. Doch die Zweidimensionalität der neuen Bilder deutet darauf hin, daß die Dreidimensionalität des Illusionismus und somit die Perspektive wirkungslos geworden sind. Auch ist die Abkehr vom Realen parallel zu sehen zur Unvorstellbarkeit der Materie, von der man heute nicht einmal mehr weiß, ob sie Funktion, Energie und Materie, Energie allein oder was auch immer ist, da noch immer der Kern des Atoms weitgehend unbekannt ist.

Das Nebeneinander der Veranstaltungen zeigt Alogik und Akausalität an. Die früheren Bilder – der rote Faden, der durch 40 Jahre meiner Kunst läuft, wird Ihnen Spaß machen, Arbeiten am alten Prinzip der Flächengestaltung in Überwindung der Illusion – eben Cézannes Urväteridee. Und im Laufe der ganzen Entwicklung meiner Kunst treten zugleich und endlich die Ordnung der Gestaltungsmittel und die nackte Fläche hervor. Wie wenn ich vom Grunde des Meeres zur Oberfläche emporgestiegen sei. Plötzlich also bin ich ganz in der Gegenwart und in der gegenwärtigen Zeit. Genug, genug. […]

Über den Autor

von E.W.Nay