Artikel in der Süddeutschen Zeitung
anläßlich Picassos 85. Geburtstag
Pablo Picasso – Die ständige Wandlung
Alles, was Picasso macht, ist Picasso. Wieviel das bedeutet, kann sich die Umwelt nicht vorstellen. Das bedeutet mehr als begabt sein, Genie sein, Zeitgenosse sein, Mensch sein, oder was man so heranholen mag, es bedeutet eine geradezu fast ausschließliche Einmaligkeit. Gut, ein Künstler, so ist es allgemein bekannt, hat einen Stil, an dem er erkennbar ist, und es gilt die Meinung, daß einen Stil zu entwickeln des Künstlers Aufgabe und der Stil sein Ziel sei.
Dieser Picasso pfiff und pfeift darauf. Er hat sich tausendmal gewandelt, hat es in seiner Natur, daß nur die Wandlung, nicht die Stetigkeit des Gleichen, wie die Umwelt meint, den Künstler ausmache, die echte Existenz sei. Er kennt die Angst, sich zu verlieren, wie alle Menschen und riskiert den Bruch, den vermeintlichen Untergang. Jedenfalls ist alles, was dieser Maler Picasso macht, unverkennbar Picasso. Das also ist das wahrhaft Zeitgenössische an ihm, diese Anlage zur radikalen Wandlung, denn man beginnt heute zu verstehen, daß nicht die Entwicklung, sondern die sprunghafte Entwicklung, der Sprung, den Menschen ausmache, im Gegensatz zum 19. Jahrhundert der bürgerlichen Welt, deren Ideal Erhaltung des Gewonnenen um jeden Preis war. Und eben die starke, offene, schwache, treibende wie getriebene, allem zugängliche Persönlichkeit, die ohne den Willensakt, die Charaktererziehung, die Aktion, den Idealismus zu bemühen, immer in allen Sprüngen Picasso bleibt. Mehr als alle anderen, weil hektischer, wilder, zerrissener. Ein Mann – von früh an berühmt, ja weltberühmt und immer weltberühmt geblieben. Auch das ist nicht nur Zufall, Glück, sondern Kraft, Gewalt, Hingebung, Offenheit und Arbeit, Arbeit.
Das Museum der letzten 400 Jahre. – Vor vielen Jahren kam mir der Gedanke, er habe all diese berühmten Werke zerschlagen, auf ihre heute mögliche Existenz – wie ein Kind eine Puppe – durchstöbert und die existenten Reste, die jetzt in unserer Zeit existenten Reste, schön numeriert vor dem Welttheater aufgebaut. Ist er doch ein mediterraner Mensch, und die europäische Welt ist mediterran entstanden.
Wer den Kubismus erfunden hat, er oder Braque, ist unbekannt. Vorher hatte er eine sentimentale Periode, im Anfang hängte er sich an Toulouse-Lautrec, später vermengte er den Kubismus mit der Perspektive. Diese Kombination blieb im Grund ein Hauptkonzept von ihm. Eine Zeitlang – um 1928 herum – war er recht bürgerlich mit seinen ›grandiosen‹ Stilleben, die heute langweilen. Er hat immer im Konflikt und Zusammenhang zum Bürgertum des beginnenden 20. Jahrhunderts gestanden. Als mediterraner Mensch – aber als Künstler ist er ganz ohne jenen Bildungsakzent des überkommenen 19.Jahrhunderts – als mediterraner Mensch ist ihm immer die Übereinstimmung der Realität mit der Wirklichkeit selbstverständlich gewesen, daher sein Sinn für Pathos und Mythos. Immerhin, so eine Plastik wie die ›Ziege‹ griff schon auf die Gottziege früher Völker zurück und bestand gar keineswegs aus der Nachahmung eines alten Ziegenidols. Das ist außerordentlich bemerkenswert. Mit der Verfremdung durch Konservenbüchsen und ähnlichem gelang ihm ein mythisches Werk – aus unserer Zeit entstanden. Ein großer Kämpfer für die Humanität, der alles antastete und ergriff, woraus der Mensch ist, nichts ließ er aus, und immer wunderte man sich, daß er diesen Kampf in seiner allerdirektesten Form aufnehmen wollte, als schon manche der Ansicht waren, daß Humanität kein einmalig festgelegter Begriff sei, daß selbst bei vollkommenster Freilegung der Humanität vielleicht dieser Kern nicht derselbe sein könne, der für eine Zeit so starker Verwandlungen immer gelten müsse. Die Humanität aus dem Glauben an die Realität als Wirklichkeit ist nun wirklich in Frage gestellt, und dieses Fragezeichen steckt im Sinn der Kunst unserer Tage.
Frühere Künstler hatten einen großen Höhepunkt in ihrem Werk, und dieser Höhepunkt war zeitlich beschränkt auf eine Reihe von Jahren des Künstlerlebens. Dann folgte entweder die Wiederholung oder der Abstieg. Picasso stieg aufs Gebirg’ sehr schnell, klomm von Bergspitze zu Bergspitze, springt wie ein Bock da herum, fällt gelegentlich mal etwas herunter, und so ist seine Kunst wie sein Leben ein ständiges Vorhandensein in unserer Zeit während seiner Lebenszeit. Auch das ist phantastisch. Und nie nur Artist, nie leer. Aber da gehört eine Deutung hinzu. Wo ist Kunst, wo ist Leben? Die Öffentlichkeit läßt sich leicht durch Pathos, Verve, Inhalt ergreifen und ist ebenso leicht dabei, da, wo das nicht ist, von Geschmäcklerei, Artistik, Leere zu sprechen. Nun! – Auch dieser Picasso, der oft wie ein Clown auftritt, ist vorerst Formkünstler, geistiger Künstler. Das ist interessant und aufregend. Er ist also vorerst immer ein geistig Formender. Die Kunstform ist der Sinn seines Lebens, nicht die Natur, die Empfindung, das Gefühl. Die Verwandlung der Naturform in die Kunstform – Cézannes Urväteridee – ist nun für Picasso nicht nur selbstverständlich, sondern auf jeden Fall vorausgetan. Dieser glückliche Mensch! Dieser glückliche Künstler! Dieses Glück der Ungehemmtheit! In dieser Sicherheit, die er immer als sein Talent weiß, ist er der freieste Mensch, zu jedem Abenteuer bereit, vor allem dem Abenteuer des formenden Geistes. Denn davon sprach ich noch nicht, daß dieser Picasso ein rasender Geist ist, der das Glück hat, auf dem Grunde des vorhandenen Verwandlungsprozesses mit der Konzeption anfangen zu können. Alles andere als ein Wildling, fängt er mit wirklich originaler ungeheurer Kraft die Form ein, an der er sein Leben lang, Tag für Tag, Nacht für Nacht – durchbrochen von der Melancholie der Spanier – gearbeitet hat und heute im Alter noch immer arbeitet.