7.7.1967

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Aufzeichnung vom 7.7.1967

Die alte griechische und späterhin Renaissanceidee, die platonische Harmonisation des Universums und die Aristotelische, dann Euklidische Raumvorstellung, die in der Geometrie und Perspektive ihre Formulierung fand, gelten heute noch für die allermeisten Menschen – unbesehen, d.h. ein Nachdenken, ob diese Vorstellungen noch gültig seien oder nicht, gibt es nicht. Die Vorstellung vom Menschen ist ein für alle Mal geprägt durch den griechischen später sogar römischen Realismus, doch gab man der mythisierenden Alma-mater-Form der Etrusker eine Chance, sich dem europäischen Vorstellungsbild vom Menschen beizufügen.

Wer aber weiß, ob das alles heute so mit unseren Vorstellungen des jetzigen modernen Menschen doch zusammenpaßt. Das einfache Erscheinen auf der Fläche, das addieren von Gegenstandsformen im Sinne eines einmal existenten, dann wieder aufgehobenen Bildraumes perspektivischer Art, das Erfinden universaler, literarischer Ideen im alten Perspektiv-Bild – das Benutzen der Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, um mit der Optik menschliche Probleme darzutun, alles das und noch mehr bleibt in jener alten antiken und Renaissancewelt stehen. Beide, Antike und Renaissance waren Welten ohne Transzendenz. Trotz der mythischen Götterthemen, trotz der christlichen Themen. Der antike griechische Mensch war nach Kerényi ein erster moderner, also auf sich selbst bezogener Mensch, dessen scheinbare, mythische Transzendenz modern gesprochen eine psychoanalytische Hilfe für den in sich frei lebenden Menschen war. Die Renaissance behält noch die christliche Figurenmythologie bei, war aber ebenfalls ohne Transzendenz. Das alles wirkt bis zur jetzigen Gegenwart.

Trotz der großartigen Erfindungen eines Mondrian, der späten Collages von Matisse blieb die Kunst im Geometrischen, Perspektivischen, Realistischen stehen, trotz der sogenannten Abstraktion. Der neue Weg aus dem formalen Ereignis scheint, so sagen es alle Experten – fast alle – zu Ende gegangen zu sein, und der Bürger freut sich des Rückzuges auf den Realismus. So konnte so ein schlechter Künstler wie Bacon zu Ruhm gelangen. Welch ein Mißgriff! Irgendwelche Kombinationen – man kann einige tausend aus den Erfindungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausdestillieren, das ist bisher alles.

Schlagworte verhallen, wenn ihnen die exakte und ausführliche Definition fehlt, das ist bei den Schlagworten der Werbetechnik, die man oft heute oberflächlich zu Rate zieht, anders, sie wirken durch den Mangel an Exaktheit.

So hatte Gebser schon seit Jahren von der Aperspektivität, Akausalität, der Adimension gesprochen. Tatsächlich mußte die Geometrie verlassen werden. Die Scheibe ist grundsätzlich eine geometrische Figur, wenn man sie mit dem Kreis verwechselt. Hält man sie aber für die Vergrößerung eines Punktes, so findet man durch Addition und Subtraktion, durch Häufung und Leere, daß man das geometrische Gebiet verlassen hat und der Arithmetik, der Zahlenrelation, sich genähert hat. Dies also war der Witz der Scheibenbilder. Aus ihnen entstanden die Reihenbilder der heutigen Periode, in denen die Scheibe weiterhin auftritt, wenn sie gebraucht wird. Also entstanden diese Reihenbilder durch einfach gesetzte farbige Wiederholungen bei veränderlichen, der Farbe angemessenen, verschiedenen, aber aufeinander formal bezogenen senkrechten Reihen. Der Anschauungsvorgang der arithmetischen Setzung hat eine neue Position erreicht.

Und der Mensch? Wo, oder ist er immer noch fern, sich selbst ein Spiel spielend, was nun schon lange geschah im 20. Jahrhundert?

Ohne Transzendenz natürlich, ohne Bezug zur Umwelt, allein sich selbst gegenüber, und dieses Alleinsein als höchsten Genuß, als Bild feiernd?

Oder ist da etwas geschehen? Ist es wirklich so, daß [der] Mensch nur so vorstellbar ist, wie die Antike, die Renaissance ihn darstellte, vielleicht etwas verschoben zugunsten seiner soziologisch anderen Struktur? Oder könnte es sein, daß nämlich jede Epoche der Menschheit sich ihre Vorstellung vom Menschen machen mußte. Mag man die göttliche Erschaffung des Menschen annehmen oder nicht, mag man das Renaissancebild des Menschen nicht verlassen wollen, sicher ist, daß wir heute in einer Konstellation stehen, die die Frage der Formulierung der Malerei wie die der Formulierung des Menschen neu stellen müssen. Denn nur durch Vorstellung lebt der Mensch und die Vorstellung, die unbekannte Vorstellung sichtbar zu machen mit dem formalen Bild, das Fragezeichen ausstrahlt, das ist wohl die Tätigkeit, die Anschauungsmeditation des Künstlers, der, wie allgemein bekannt, sein Spiel ohne auf Zuschauer zu achten, spielt.

Kommen wir zum Fazit. Vorerst noch, was eigentlich auch bekannt sein sollte, von Sprung zu Sprung lebt der Mensch, und es ist töricht, einen Künstler auf einen Künstler auf einen Stil oder – höchst ernst – einen Künstler auf seine Persönlichkeit festzulegen.

Das Fazit, das Ergebnis.

1. die Reihensetzung der Farbfläche durch verschiedenartig geformte Streifen, Halbkreise, Kurven, der Möglichkeiten sind viele,

2. a) die Farbsetzung nicht willkürlich, sondern einer Folgeordnung oder Wiederkehr von einigen Farben in gleicher Reihenfolge, geschlossen gesetzt oder offen,

b) das unabhängige Setzen von Gegensätzen, die keinen Bezug aufeinander haben.

Diese drei Grundformen des Systems, folgerichtige Ausbreitung des Scheibensystems, ergeben eine Synthese als Bildfläche und diese Synthese ist allerdings ebenso frei wie konstruktiv, wenn man unter Konstruktion nicht darstellende Geometrie versteht.

Und diese Synthese enthält und zeigt bereits zuweilen Keime und Formen einer Vorstellung, die [vermag] – übrigens in Amerika in meiner Kunst bereits erkannt –, Mensch sichtbar zu machen. Hier wird man nach Ähnlichkeitsformen suchen. Diese ist aber sehr andeutungsweise, in einer Kurve, einer Form, die sich sofort wieder als formal vorhanden ausgibt, bewußt als nur formales Ereignis sichtbar. Sie sehen mithin den ständigen, unabhängig verlaufenden Wechsel von Bildern, Aquarellen, Gouachen, die im Formbild Mensch erklingen lassen und die es nicht tun. Mir ist klar, und im auslandsgläubigen Westdeutschland – ich bin längst global – wird sich wie immer Widerstreit darüber erheben, mir ist klar, daß in dieser hier vorgeführten Kunst der erste Schritt jenseits der Geometrie einerseits und jenseits des nun im Sterben liegenden Pop und Op Versuches gemacht ist.

Die Malerei ist in anderer Form wieder da und der Gegenstand als Vorstellung der Mensch als Vorstellung ist nicht aus der zivilen, bürgerlichen Umwelt genommen.

Über den Autor

von E.W.Nay