16.3.1962

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Entwurf eines Vorwortes für den Katalog
der Ausstellung ›E. W. Nay – 60 Jahre‹
Museum Folkwang, Essen, 15. September – 21. Oktober 1962

Zum 60. Geburtstag schreibe ich mir selbst ein Katalogvorwort. Die Kunst findet nirgends Wertsetzungen, mit denen sie umgehen könnte. Viele Menschen gibt es, die entweder gar nichts von den gegenwärtigen Ereignissen wissen – die Mehrzahl –, und ebenso eine Mehrzahl ahnt, ja weiß um diese Tatsachen, will sie aber nicht wissen. Regierungen laufen mit, hinterher.

Politische Systeme führen nicht mehr zur Kunst. Der Künstler steht allein, umgeben von weniger als nichts.

Die die Kunst beobachten, wollen sie auch leiten. Das ist natürlich unmöglich. Alles ist zu Ende, alles was irgendwie zu einer Beurteilung führen könnte.

Vom Surrealismus zur Kunst der Irren und dann Nichtkunst – der eine Weg, der über den beendeten Tachismus führt. Gegen die Logik setzen andere den Teutonismus!

Konstruktivismus und École de Paris als Cartesianismus – zu Ende! Über alle Ufer flutend die psychische Malerei: zu Ende.

Eine Epoche, die mit dem Expressionismus und Kubismus begann, ist gründlich zu Ende.

Der Anfang, der wieder zu setzende Anfang beginnt; während seinerzeit der Kubismus den Anfang mit dem Kubus, der Geometrie machte, – nun mit der Zahl, dem Rhythmus, der Arithmetik. So wenig wie der Kubismus ein genaues System entwickelt hat, kann der Numerismus ein System entwickeln. Klar aber ist bereits, daß die Grundzüge dieses Anfangs in der Zahl, dem Rhythmus in Verbindung zur Fläche zu suchen sind.

1956 zeigte ich die ersten Bilder, die aus der Farbe entwickelt die Zahl und den Rhythmus zur formalen Existenz aufrufen, auf der Biennale in Venedig. Ich wurde ausgelacht, besonders von meinen Landsleuten, weniger vom Publikum als von den Fachleuten.

Wir sind sechs Jahre weiter. Noch immer kultiviert man Gefühle, versucht teutonische Vitalität, gemachtes Irresein, skurrile Poetik, während längst die neue Zeit begonnen hat. Denn meine Kunst ist bereits frei vom Systematischen, ist wieder Kunst, das heißt Identität.

Freud und Einstein haben die Kunst der letzten 50 Jahre begleitet, nun verbindet sich durch die Zahl Anschauung und Begriff von neuem – in ganz anderen Setzungen!

Über den Autor

von E.W.Nay