23.2.1962

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Antwort an Eduard Trier, publiziert in:
›Jahresring 62/63‹, Stuttgart 1962, S. 146-147

Eduard Trier, Herausgeber des ›Jahresring‹ an Nay, Köln, 10.1.1962

[…] Im Namen der Herausgeber des Jahresrings möchte ich Sie bitten, sich an der Beantwortung einer Rundfrage zu beteiligen, die wir an eine Anzahl von deutschen Künstlern gerichtet haben. […]

Unsere Frage lautet: Wie sehen Sie heute die Situation von gegenständlicher und abstrakter Kunst? […]

Daß diese Frage »Wie sehen Sie heute die Situation von gegenständlicher und abstrakter Kunst?« 1962 wieder gestellt wird, zeigt, daß man in Westdeutschland weiterhin unsicher in der Beurteilung der künstlerischen Möglichkeiten unserer Zeit ist. Die Bitte um »eine objektive und unparteiische Bestandsaufnahme der künstlerischen Erfahrungen« weist außerdem darauf hin, daß hierzulande über den Menschentyp ›Künstler‹ mehr denn je Unklarheit besteht, denn es ist sicher so, daß der Künstler kein Fachmann und Experte ist. Diese Unklarheiten sind nicht überraschend, denn das böse Erlebnis der letzten Mythisierung der Deutschen hat zur Mythoslosigkeit geführt und nur einige können sich vorstellen, daß anderes als Materialismus daraus hervorgehen kann. In diese Verwirrung hinein zu sprechen dürfte für einen Maler schwieriger sein als Anschauung zu geben. Das Gesicht unserer Zeit wird von der Malerei und der Naturwissenschaft bestimmt, auch in Westdeutschland. Das ständige Manipulieren mit dieser oder jener gerade brauchbaren Vergangenheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Naturwissenschaften unserer Tage Anschauung und Begriff getrennt haben, d.h. daß Gegenstand und Natur für uns nicht mehr identisch sind wie etwa im kosmogonen Idealismus der deutschen Romantik. Damals konnte der Begriff durch den Gegenstand Anschauung werden. Diese Voraussetzung für die gegenständliche Kunst gibt es nicht mehr, und somit hat die gegenständliche Kunst ihren Sinn verloren. Andererseits ist die echte Folge dieser Trennung von Anschauung und Begriff die gegenstandslose Kunst. Der Mensch wurde ein psychisches Problem, das Freud wieder entdeckte. Das psychische Problem führte die Malerei zur Anschauung. Über die kommende Entwicklung zu sprechen ist ein müßiges Unternehmen, doch dürfte, wenn schon Freud zu nennen war, nun auch Einstein genannt werden.

Über den Autor

von E.W.Nay