um 1962

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Aufzeichnung um 1962

Die Objektivation in Verbindung mit der Ausdruckskunst – dies Problem ist immer wieder von selbst aktuell. Es verbindet sich in mir mit einem ausgeprägten Talent zur Farbe, einem Talent, das eines Tages dazu führen mußte, die Farbe einem tiefgründigen und umfassenden Experiment zu unterwerfen. Als ich die Einheit von Form und Thema verließ und das Bild aus der Farbe allein existent sehen wollte, stieß ich halb mit der Gestik zusammen, und um ihr zu entgehen, entstand die Malerei im Kern der Malerei als äußerste Vorstellung vom Gestalten aus der Farbe. Die Malerei aus dem Grund ihrer selbst, wie sie ebenso zeitlos ist wie für jede Zeit, jede Ausdrucksform, immer wieder neu entdeckt werden muß. Das Wort ›Malerei‹ ist so vielfältig gebräuchlich, daß es schwer ist, denjenigen Wert herauszudestillieren, der meine Experimente bis zur Entdeckung einer neuen Kunst inspirierte. Die Farbe als Scheibe war es, die das Problem Farbe zur Fläche entscheidend aufschloß. Ich konnte nur hoffen, daß sich von selbst die Schlacken, die dabei entstehen würden, auflösen würden, ja, daß sich von selbst aus solchen Experimenten mit der Farbe Kunst entwickeln würde. Das ist geschehen. Es war jene Hauptkrise, der sich jeder Künstler einmal gegenübersieht, wo die Entscheidung seines Lebens fällt. Akademie wie Romantik – es gibt beides in der modernen Kunst – mußten vermieden werden, Intellektualität war mit im Spiel und mußte, mit Instinkt aufgeladen, als Bewußtheit fördernd statt zerstörend eingreifen können. Es ergab sich eine umfassende Umstelltheit mit diesen und vielen anderen Ungeheuern, und doch mußte das Bild selbst stets und jeweils ohne Reflexion aufgenommen werden können. Das Wort von Cézanne »réaliser« leuchtete immer wieder auf, bezog sich auf das Bild zugleich wie auf die Welt unserer Tage. Begriffsveränderungen der Gegenwart wie das Wort Expressionismus als Gefühlsausdruck statt als Weltausdruck und viele andere verlangten Eindeutigkeit. Realisieren in dem, was Malerei im Grunde heute ist – in nuce ist – eine Malerei, die das Arithmetische als Zahl benutzt, Relationen und Funktionen modelliert und modifiziert, Realisieren nur in diesem und hoffen, daß von selbst sich ansammelt, was Kunst als Ausdruck des heutigen Menschen sein kann.

Es kam mehr heraus. Das Mittelmeer, jahrhundertelang Ausgang der Kunst – zu Ende ist seine Wirkung. Das Heranziehen anderer alter oder neuerer Kulturen in die Kunst – noch immer oft gepflegt – ist sinnlos geworden. Das Wort »jetzt« beherrscht den Heutigen. Atlantik und Osten, also Dynamik und Gefühl zusammen.

Und die Geister, die unser Leben definierend dirigieren: Freud, der das Unterbewußte ins Bewußtsein rief, Einstein, der die Definition dessen, was Natur heute, wenn man Welthabe wollen muß, ist, zweimal bestimmte, einmal in der Idee der Relativität, zum zweiten in der Definition der Materie als Kraft, und Heidegger, der die Transzendenz in das Sein Mensch verlegte – Grundlagen unserer Zeit.

All diese Erwägungen, die mir unerläßlich schienen, konnten nie ein Bild malen, malen konnte das Bild nur ich, und das heißt, immer wieder die Unberührtheit herstellen, wie die weiße Unberührtheit der Leinwand immer wieder vor einem steht. Es ist sicherlich nicht leicht, diese Situation des Malers gerecht zu verstehen – so zu verstehen, daß klar ist, daß das Bild nicht die Folge aller Erwägungen ist, sondern die Erwägungen und das Leben des Malers einfach von selbst immer wieder [sich] zusammenschließen, zu einer Art von Schluß kommen, wo sie vergessen sind. Da beginnt das Bild. Viele meinen, was ist das für ein Umstand! Und es gab viele und heftige Angriffe. Aber ist zu vergessen, daß da noch ein anderes großes Problem mit hineinspielt? Zugehörigkeit zu einem Volk, das sein Gesicht verloren hat und keine Anstalten macht, es wiederzugewinnen. Oder nur sehr windige und oberflächliche. Und obwohl die Welt vergessen will, weil das Leben stärker ist und die Erkenntnis, daß die Güte stärker ist als Feindschaft.

Das heißt also, das mit dem verlorenen Gesicht heißt, daß gar keine Kunst entstehen könnte in solch einem Volk, weil Kunst ja auch in dieser Hinsicht höchstes Maß und höchste Kraft darstellt. Diese Frage wird in unserem Lande nicht berührt. Aber die Menschen werden ständig an diese Frage herangeführt, wollen die einen ihr im Taumel entgehen, die anderen aber wollen ihr nicht entgehen. Und die, die ihr nicht entgehen wollen, geben dem Künstler ihre Zustimmung, demjenigen Künstler, der sich dem Ganzen stellt. Dem Künstler, dessen Kunst voraussichtlich und vor allem neue Gebiete des Bewußtseins und darin [ein-] geschlossen neue und noch ganz unbekannte Denkvorgänge des Menschen vorahnend sichtbar macht.

Auch ist die Kunst unserer Tage nicht mehr an Nationen gebunden, wie in der Zeit, als die großen Mächte der Welt sich national bestimmten und gegeneinander absonderten. Die Kunst unserer Tage ist unabhängig von Völkern und Nationen, eine Kunst, die mondial ist und die den kommenden Menschen definiert, indem sie vorahnend unbekannte Möglichkeiten menschlichen Denkens sichtbar zu machen scheint.

Die Umwelt träumt zu gern vergangenen Zeiten der Menschheit nach – oder sichtet das Ende der Kunst. Zu Ende aber ist nur diese Kunst, die aus Mythen, Magie, Religion und Religionsersatz ihre Aussage bezog. Zu Ende ist auch die subjektive wie die realistische Kunst. Die eine verlegt die Kunst in die Einzelperson im Ganzen, die andere ist materiell. Diese Fragen sind erschöpft. Das reflexionslose Bild, das eine Vorahnung erweiterten Denkens und neuer Denkvorgänge ist, ist das Bild meiner Kunst. Diese Kunst ist auch nicht Privileg der Gebildeten, von einem Gebildeten gemalt, sie ist allen zugänglich, weil einfach.

Über den Autor

von E.W.Nay