22.7.1956

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Aufzeichnung vom 22.7.1956

Über das Nationalgefühl der Deutschen im Jahre 1956

Die Deutschen wollen ihre Nationalität nicht, weil sie den Krieg verloren haben und jetzt wirtschaftlich wieder auf der Höhe sind. Sie wollen das Nationalgefühl nicht, weil sie zwischen 1933-45 zuviel davon hatten. Diese Zeit, 1933-45, wollen sie nicht anerkennen.

Die Nazizeit als Lebenszeit anzuerkennen aber heißt für jeden einzelnen die Kollektivschuld anzuerkennen, für diese Zeit von 1933-45. Das heißt genau, daß jeder Deutsche, ob Nazi oder nicht, für jene Zeit verantwortlich ist – wobei die Zeit vorher, die unter dem Versailler Vertrag, zu Lasten Europas geht. Das ist der schwierige Punkt, der Punkt, wegen dessen ein natürliches nationales Empfinden gestört ist.

Auch – wie man an sich erfährt – stehen die Künstler unter diesem Gesetz. Die anderen Nationen jedenfalls stellen diese Forderung. Die Wirtschaft und der Tourismus vernebeln die Situation. Die Geschäftswelt anulliert, was die Intelligenz nicht anullieren kann. Daher zwischen Intelligenz und Künstler die Entscheidung über das nationale Empfinden auszutragen ist.

Weder die Intelligenz des Auslandes noch die des Inlandes mag sich zu dieser Entscheidung bekennen. Aber sie hat jenen Außenpol der Völker – die Entscheidung der Geister – erreicht. Dort sollte sie von allen abgebaut werden. Wenn Deutsche auf jenes natürliche nationale Empfinden verzichten, so wirft man ihnen jene erst genannten Punkte vor. Ein circulus vitiosus.

Warum will man im Ausland, daß deutsche Künstler deutschen Geistes sind? Sind sie, aber warum will man dies? Gewinnen tun dabei nur die Schiefen, die niemand begrüßen kann!

Man trägt’s an denjenigen Künstlern aus, an denen es auch die Nazis ausgetragen haben.

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von E.W.Nay