Aus einem Brief an Will Grohmann
[…] Ein Kranker kommt zum Arzt, der ihm seine Schmerzen heilen soll. Der Arzt wird einmal die Krankheit, nachdem er sie erkannt hat, zu heilen und die Schmerzen zu beseitigen versuchen, zum anderen wird er die Ursache der Krankheit behandeln müssen. Die Schmerzen beseitigen! Sie sagen »und schön sind die Bilder auch noch«. Also – die Schönheit der Bilder beseitigt den vorhandenen Schmerz. Und die Frage nach dem Ursächlichen ist dann noch zu stellen. Sie muß zu beantworten sein, aber sie muß nicht jedem bewußt sein, es ist die Schönheit der Bilder, die milde vermittelt. Die Angst, der Schmerz, sie werden also durch die Schönheit der Bilder sanft abgelenkt und der Betrachter wird hingeführt auf die Ursache von Schmerz und Angst. Diese Ursache wird nicht im subjektiven, seelischen Bezirk gesucht, nicht in der vitalen Sphäre, sie wird nicht gesucht in der Frage nach dem Verhalten des Menschen in sich selbst und zu sich selbst, sie wird gesucht in der Frage nach dem Verhältnis des Menschen zum Raum und zu seinem Bewußtsein zum Raum. Man kann wohl den allgemeinen Gedanken festhalten, daß alles bildnerische Tun ein Gestalten des Raumes ist, sofern man nicht ausdrücklich der Meinung ist, daß bildnerisches Gestalten ein Mittel sei Empfindungen auszusagen. Während nun seit der Renaissance der Scheinraum das bildnerische Tun der Malerei bestimmte, besteht seit und mit Cézanne das immer wieder vom Pathos und vom Sentiment verdrängte Bemühen um den echten Raum. Der echte Raum der Malerei, die eine Flachkunst ist, ist die Fläche, diejenige Fläche nämlich, die keinerlei Illusionsräumlichkeit zuläßt, weder im illusionistisch-perspektivischen, noch im kubisch-konstruktiven Sinn, noch im transzendent-offenen, unbegrenzten Sinn.Jean Gebser spricht von dem aperspektivischen Weltbild, das zugleich eine neue Bewußtseins-Stufe fordert. Der aperspektivische Raum, der Raum ohne Mittelpunkt, in dem jeder Punkt Mittelpunkt ist, der Raum, der ›endlich begrenzt‹ ist, ist ungestaltbar, denn er ist unerkennbar und unvorstellbar in seinen Funktionen. Die Fläche wird also keineswegs in der Lage sein ihn darzustellen oder sichtbar zu machen – als Raum, wie den perspektivischen Raum. Sichtbar wird aber das Begehen, das existentielle Verhalten in diesem aperspektivischen Raum, d.h. ein solches Begehen, das ist eine Aufgabe, die die Fläche zu lösen vermag. Offensichtlich bedarf es zu dieser Sichtbarmachung, zu dieser Determination, der Einsetzung eines bewußten, geistigen, organisierten Tuns, einer Methode, die das Begehen als Flächenexerzitium vorzeigt, zugleich aber insgeheim so mit der Seele sich verbunden sieht, daß Fläche und Exerzitium zum Kunstwerk aufsteigen. Man kann nur sagen, daß heute Kunstwerk als Malerei da entsteht, wo die Erkenntnis über den aperspektivischen Raum sich mit den Mitteln der echten Fläche so verbindet, daß – um technisch zu sprechen – im Einrasten beider Betätigungen von selbst mehr geschieht als zu meinen war, nämlich Kunstwerk. Das Bewußtsein steigt zur Erkenntnis auf, daß die arithmetische Methode das Begehen des unvorstellbaren aperspektivischen Raumes als Fläche spürbar machen kann. Die Schönheit der Bilder soll dazu verleiten, daß ein solches Erlebnis ohne Reflexion erfahrbar ist, während bisher oft die Reflexion durch Pathos oder Schock verhindert wurde. Geschieht doch dieser Vorgang als Kunstwerk eben durch die Farbe, den unfaßbarsten, unkontrollierbarsten Wert. Das Neue ist das ganz anders geartete Verhalten zur Fläche. Noch immer war die Fläche ein Instrument, das bildnerische Vorgänge aufnehmen sollte, als solche auch immer existent zu meinen war. Es in den größten Malwerken auch immer ist, und doch, so wesentlich in der Malerei ihr Vorhandensein immer war, so sehr gab es in den verschiedenen Zeiten verschiedene Zubehöre: assoziativer – gegenständlicher oder seelisch-empfindungshafter Art. Hier geschieht aber in purer Form die eigentliche Erfahrung der Fläche selbst, allein und isoliert, sie selbst macht sich spürbar und aussagbar, eine Choreographie erzeugend, aber es ist keine Choreographie, die irgendwie in sich geordnet irgendwo stattfinden könnte, sondern die Fläche selbst schafft diese Choreographie.
Dieses ganze bildnerische Anliegen ist nicht mit Gewalt zu bewältigen, auch nicht als Folge intellektueller Erwägungen, sondern in der Freiheit des künstlerischen Tuns, das als ein formales, also bildnerisch-poetisches anzusehen ist. Und von dort her, von den Bildern her, ist es einzusehen. […]