ArchivAugust 2023

10.9.1967

Aufzeichnung vom 10.9.1967

Ein Mensch, von allen Seiten angegriffen, allein in allen Dingen des Geistes, der Kunst; Malen, Trinken, Cortison, die vollkommene Monomanie. Jeden Tag, jede Stunde angegriffen von der Umwelt, der engeren und weiteren. Wer keine Kontakte hat, schafft sie sich durch Konflikte. Diskussionen werden mit Verfemung oder Verhöhnung beendet – von den anderen. [...]

11.9.1967

Aufzeichnung vom 11.9.1967

1)  Will man heute das Generationsproblem anerkennen, so muß man dieser Anerkennung beifügen, daß heute – in unserer Lebenszeit – jede Generation erst 20 Millionen Tote verloren haben mußte, ehe die nächste zu Wort kam! Also erkenne man das Generationenproblem nicht an!

2)  Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts der Künste ist nicht von Kubismus und Expressionismus geformt, sondern von Klee, Mondrian und Kandinsky. D.h., nicht Form noch Gefühl, sondern die vollkommen unabhängige, von allem befreite Persönlichkeit, der direkt lebende Mensch, schuf die Liberation, die Mittelfreiheit der Kunst. [...]

19.9.1967

Aufzeichnung vom 19.9.1967

Pop, Op, Systemic Art ist der letzte Versuch, die Renaissanceidee noch einmal für die Welt zu verwirklichen, die Idee, daß die Kunst von der Natur käme.

Die Kunst kommt aber von der Kunst. Dieser Satz ist nach den großen naturwissenschaftlich-chemisch-physikalischen Entdeckungen über die Materie die einzige Möglichkeit, Kunst zu machen. Kunst also als Kunst. Dies ist nicht dasselbe wie l’art pour l’art. Kunst als Gesamtäußerung, in der Form Inhalt und Inhalt Form ist und deren Inhalt das ist, was außer diesen vorher genannten wissenschaftlichen Entdeckungen für den Menschen faßbar, anschaubar ist, für den Menschen, der ebenso primitiv wie super-bewußt ist. [...]

September 1967

Entwurf für ein Vorwort zum Katalog der Ausstellung
›Ernst Wilhelm Nay‹, Galerie im Erker, St. Gallen

Nach der Liberation des bildnerischen Prozesses, vorgeführt von Mondrian, Klee und Kandinsky – dies ist die Tat der ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts – sind die meisten Künstler ins 19. Jahrhundert zurückgekehrt. Sie wandten sich wieder dem Gegenstand als Hauptstück des Bildes (pop) oder, gemäß der physikalischen Untersuchung der Retina, dem physikalischen Augenerlebnis des Universums zu. Goethe, Helmholtz, Bergson stehen zur Seite, aber nicht Einstein, Planck, de Broglie, Weizsäcker und Heisenberg. So ist diese Rückkehr zur physikalischen Realität des Dings und des Sehens für die Kunst als eine Pause nach jener Epoche der Liberation und als ein Rückschritt anzusehen. [...]

4.10.1967

Aus einem Brief an Alfred Hentzen

[...] Ich bin glücklich, keiner Region, kaum noch dem Lande (meine Ideen haben sich aus Europa mit Amerika und dem Fernen Osten verbrüdert) anzugehören, keiner Religion und keinem Ismus. [...]

Oktober 1967

Beitrag zum Katalog der Ausstellung ›Ernst Wilhelm Nay‹
Galerie im Erker, St. Gallen, 25. November 1967 – 31. Januar 1968

Meine Farbe

Die Farbe als künstlerischer, geistig zu formender Wert ist so inkommensurabel, so unberechenbar, daß jeder Maler, der eindeutig von der Farbe her gestaltet, sich gezwungen sieht, die Farbe für sich selbst neu in ein System einzuordnen und mit Hilfe dieses Systems zu formulieren. Ein System entwickeln, das nicht nur für den Erfinder gültig ist, sondern objektiv zu bestehen vermag und zugleich zeitgenössisch bedeutungsvoll ist, indem es mit anderen Strömungen der Zeit korrespondiert, so heißt die Gesamtaufgabe eines Malers, der naturgemäß aus seinem Wesen heraus sein Leben mit einem solchen System erfüllt sieht. [...]

24.11.1967

Nay zum Tode von Arnold Rüdlinger

[...] der inspirierte Mensch, dessen intuitive Fähigkeit der der Künstler glich, ist tot. In aller Welt, in Europa, in Amerika, in Japan, überall, wo die moderne Kunst lebt, überall dort wird seiner schmerzlich gedacht. Künstler und Kunstfreunde, Schriftsteller, Sammler, Museumsleute, Kunsthändler und Kritiker, das ganze Instrumentarium der bildnerischen Gestaltung, betrauert diesen Menschen. [...]

25.12.1967

Aufzeichnung vom 25.12.1967

Will ich Rettung?

Nein, ich will Mensch sein, der alles abstreift, was nicht zu ihm gehört und was außerhalb seiner je gedacht wurde. Ich will alles, was ihm zugehört, was nur Mensch ist. Ohne Transzendenz, ohne Materialismus. Dieses Menschsein erfindet sich selbst Formen und Formeln, jeder auf seine Weise, ein Maler also auf die Weise der Malerei. [...]

1967

Antworten zu vier Fragen des Carnegie-Instituts

Der folgende Fragebogen des Carnegie-Instituts, Pittsburgh, USA, wurde Nay im Vorfeld der Ausstellung ›The 1967 Pittsburgh International Exhibition of Contemporary Painting und Sculpture‹ (The Carnegie Institute, Pittsburgh, 27. Oktober 1967 – 7. Januar 1968) zugesandt. Diese Ausstellung fand jährlich aus Anlaß der Verleihung des Carnegie-Preises statt. Im Jahr 1967 beteiligte sich Nay mit dem Bild ›Mit roter Spindel‹ von 1966 (WV 1213). Aus diesem Grund bat man ihn zur Mitarbeit an einer Studie, die die Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft betraf: [...]

Um 1967

Entwurf einer Rede

[...] Diese Kunst ist zu bezeichnen als elementare Malerei. Elementare Malerei in der Freiheit des Menschen besteht aus objektiven Verbindlichkeiten der Fläche und der Farbe.

Absolute Malerei erkennt diese Verbindlichkeit insofern nicht an, als die Erfindung, aus dem subjektiven Individuum entstanden, ohne objektive Verbindlichkeit von Form und Fläche, sondern in freier Formerfindung Anschauung wird. Auch zielt die absolute Malerei auf das Absolute des Universums, das gedachte Absolute, und macht diese Ambition, das seit Plato gedachte Absolute, anschaubar. Nicht so die elementare Malerei. [...]