ArchivAugust 2023

4.1.1958

Aufzeichnung vom 4.1.1958

Ob diese Zeit noch das Zeitalter des Individualismus, das Zeitalter der Angst genannt werden kann, ist fraglich. Eher ist es das Zeitalter des nomadischen Kollektivismus. So haben alte Leute heutzutage drei Zeitalter erlebt – das des Idealismus, das des Individualismus und der Angst, das des nomadischen Kollektivismus. [...]

5.5.1958

Aus einem Brief an Werner Haftmann, Paris, 5.5.1958

[...] Vor 14 Tagen hatte ich in Köln noch ein großes Bild abgeschlossen, das ich nach München zur Ausstellung in der Großen Münchner schickte [...] Offensichtlich gehört es zu meinen besten Bildern, heißt deshalb etwas umfassend und summarisch ›Symphonie‹ und weist bereits jenen Schritt auf, den schon mehrere Bilder der letzten vergangenen 12 Monate zeigten, die aus dem Rhythmischen und Zahlhaften heraus entwickelte spirituelle Malerei, eine, wie mir scheint, wirklich nun gelungene neue geistige Malerei! [...]

1.7.1958

Aus einem Brief an Werner Haftmann, Paris, 1.7.1958

[...] eine Reihe Bilder [ist] soweit und ganz fertig, daß ich sie zeigen kann. Ich arbeite ja immer sozusagen eine Serie durch, d.h. schließlich an vielen Bildern gleichzeitig, die sich dadurch gegenseitig steigern. Die Vereinfachung meines Talents durch die Scheiben stellt sich immer mehr als ein glänzender Einfall heraus. Jetzt ist die Möglichkeit zur Variation nahezu unbegrenzt. Und die Kunst bleibt immer in der Lage der geistigen Kraft. [...]

November/Dezember 1958

Für Werner Haftmann bestimmter Lebensbericht
›Regesten zu Leben und Werk‹

Im Mai 1925 hatte ich einige Bildnisse gemalt, ich wohnte mal wieder für ein Jahr bei meiner Mutter in Steglitz in einer großen Etagenwohnung, war Angestellter einer Buchhandlung und sonntags, wie oft nachts, malte ich. Um die Ecke herum wohnte die alte Witwe eines Arztes, die sich meiner unruhigen, exzentrischen Natur, weich und gütig, entgegenkommend-mütterlich annahm. Deren Sohn malte ich eines Tages in vier Stunden. Vorher die Freundin einer meiner Schwestern und meine Mutter. [...]

um 1958

Aufzeichnung um 1958

Wenn Berlin stünde und lebte wie früher, wäre es der urbane Platz einer neuen Weltkunst. Ein solcher Platz ist zur Zeit nicht vorhanden. Paris ist künstlerisch inaktiv und ein Umschlagplatz für Kunsthandel geworden. London, Rom, Mailand rechnen nicht. Wien könnte etwa Berlin ersetzen, doch ist es eine Frage, ob eine Weltkunst im Ganzen dort Standort haben könnte. Prag ist fort, in Europa also ist kein urbaner Platz. New York ist im Kommen. [...]

21.1.1959

Aus einem Brief an Erich Meyer

[...] Natürlich macht sich erst langsam bemerkbar, daß meine Kunst und ich selbst wieder einmal den Platz des Pionier- und Forschergeistes in der Kunst belegen, dessen höchste Form in der Moderne Cézanne darstellte, und der bei dem allgemeinen Psychismus an den Rand geraten war. [...]

19.2.1959

Aus einem Brief an den Komponisten Wilhelm M. Maler

[...] jene Konfusion zwischen Kunst und Leben habe ich von mir fern halten können, wie ich mir die Profession des Akademikers fernhielt. Zwangsläufig erfand ich mir in 25 Jahren eine Kunstsprache, deren Syntax – man muß schon eine haben – ich skeptisch und ironisch behandelte. Scheußlich egozentrisch konnte ich immer nur durch die Malerei leben, ob sie nun Geld brachte oder nicht. [...]

25.4.1959

Aus einem Brief an Carl Georg Heise

[...] Von Ihnen lernte ich, wie Sie wissen, dies stetige Aufpassen auf die Liberalität und Vermeidung von Machtvorstellungen. Verstieß ich dagegen, so geschah das mehr aus der Anlage meiner Natur, die chaotisch und eruptiv genug ist, um ständig neue Bilder zu finden. [...]

9.5.1959

Aus einem Brief an Erich Meyer

[...] Wiewohl jeder leicht einsieht, daß die Kunst daraus [aus seelischen Störungen] hervorgeht, ist meine Umwelt nicht immer glücklich dran mit mir. Ich nehme an, daß mit dem Umzug in das sehr geräumige Haus im Oktober dieses Jahres die Störungen nachlassen. [...]

7.7.1959

Aufzeichnung vom 7.7.1959

Meine Idee von der D[ocumenta] II

I.     Der Tachismus ist tot, der Psychismus hat einen neuen Ausdruck gefunden bei den Amerikanern.

II.   Der Konstruktivismus ist tot. Die geistige Bewältigung des Künstlerischen hat eine neue Ausdrucksform gefunden bei Nay. [...]