ArchivAugust 2023

7.4.1962

Aufzeichnung vom 7.4.1962

Alles in Westdeutschland ist Fiktion, Einbildung, Übereinkunft von Vorstellungen, die unrealistisch sind. In der vielschichtigen Überlagerung werden einige Vorstellungen zu Haupteinbildungen erhoben, denen die Mehrzahl wenigsten äußerlich folgt, weil es so günstiger ist. In Frankreich ist es dasselbe. Aber schon Österreich ist etwas anders. Was aber ist realistisch? [...]

27.6.1962

Aus einem Brief an Werner Haftmann, Ischia 27.6.1962

[...] Die Angst unserer Zeit entsteht einmal aus der Leere, die das ausgelebte, beendete Christentum hinterläßt [...] – zum anderen aus der Unvorbereitetheit gegenüber den neuerkannten Naturkräften. So wird der Weg gehen: vorbei an der Gottheit ›Materie‹ und vorbei am ›Alexandrinertum‹ – den beiden Strömungen unserer Gegenwart. [...]

11.7.1962

Aufzeichnung vom 11.7.1962

Unsere geistige Welt erfährt das Sein in Abstraktionen. Die Identität von Sein und Denken ist aufgehoben. Der seelische Ausdruck umfaßt nur das individuelle Sein, das Ich, so daß die universale Ausformung ausbleibt. Die Seele bleibt im Gefühl stecken. [...]

11.7.1962

Aufzeichnung vom 11.7.1962

Eine Summe von Funktionen ist ein Motor. Die Ambition eines Motors ist Motorik. Die Motorik auf einer Fläche zeichnet Energie auf. Dividiere ich diese Energien mit einer gegebenen Fläche, so verwandelt sich Motorik in Dynamik. Vollziehe ich diesen Vorgang von der gegebenen Fläche aus, so entwickelt die nunmehr umgekehrte Dividierung von Dynamik und Statik die potentielle Energie der statischen Fläche. Das ist Malerei. [...]

11.7.1962

Aufzeichnung vom 11.7.1962

Mein Bild stellt sich als allein durch die Sinne wahrnehmbares Bild dar. In der in Frei-heit verwalteten Methode der arithmetischen Setzung verbirgt sich eine Setzung von Funktionen und Energien, ähnlich wie wir sie als Natur verstehen.

21.7.1962

Aufzeichnung vom 21.7.1962

Über meine Malerei möchte ich schon gern einmal ganz einfach und vollkommen unpolemisch sprechen. Das scheint nicht leicht zu sein.

Mein Weg war ein Alleingang und ist es noch, in keine Gruppe gehörend, zu keiner Richtung festgelegt. Mehrmals habe ich im Laufe meines Lebens meine Malerei, meine Kunst, aus eigenem Antrieb, ohne den oft üblichen Zwang der Öffentlichkeit abgebrochen und habe dann ganz woanders wieder angesetzt. 1952 kam ich mit Bildern heraus, die, damals völlig neu, den abstrakten Expressionismus brachten und heftigen Widerstand hervorriefen. [...]

Juli 1962

Beitrag zum Katalog der Ausstellung ›E.W. Nay 1945-1962‹
Galerie Springer, Berlin, 25. September – 21. Oktober 1962

An einem entscheidenden Punkt habe ich die Malerei so andauernd und exakt wie möglich betrachtet, um ihr Wesen zu erkennen, das zu sehen, was ich ihren bildnerischen Mechanismus nennen könnte. Die Farbe war mir als der spontanste, unwägbarste Wert erschienen, der sich durch nichts deuten ließ, wenn man ihn von einer jeweils zugehörigen Erscheinung löste, im Gegensatz zur Zeichnung, die sich intellektuell verstehen läßt. [...]

11.8.1962

Aufzeichnung vom 11.8.1962

Meine Feinde sind zu schwach, meine Freunde gut, wie Freunde sind – so muß ich mir mein Schicksal aus dem eigenen Leibe holen! Ich renne gegen das Nichts, das nichts ist. Ich habe Freunde, die zuweilen meine Feinde werden. Weder Freunde noch Feinde haben mich zur Strecke gebracht. Die anderen, die echten Freunde, leben in der Windstille. Freund eines Künstlers zu sein ist also kein Vergnügen. [...]

17.8.1962

Aufzeichnung vom 17.8.1962

1956 entstand das Freiburger Bild. Die Professoren des Chemischen Instituts fühlten sich beim Anblick dieses Bildes, als sie es nach der Fertigstellung sahen, an kosmische Ereignisse erinnert, an die Entstehung eines Sterns. Im Innern eine große formlose Hitze sowie die große rote leere Fläche in der Mitte des Bildes, dann Abkühlung nach außen hin und Entstehung von Einzelformen. [...]

9.11.1962

Aus einem Brief an Werner Haftmann

[...] Meine Kunst ist [...] wieder heftig auf Eroberung aus. Immer mehr sieht man, daß ich auf anderem Boden gewachsen bin als [die] ›Ecole de Paris‹ oder [die] Amerikaner. Es ist der weitere Schritt aus dem ›Blauen Reiter‹ – den romantisch zu sehen Unsinn ist! –, wenn man 40 Jahre dazwischen legt. [...]