1.1.1953

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Aus einem Brief an Theodor Werner[1]

[…] da Sie so freundlich zu mir waren, hier in Hamburg, […] möchte ich Ihnen, nachdem die ›Halbzeit‹ – die ersten vier Wochen – vorbei ist, berichten, wie sich der Unterricht anläßt. Erstmal jedenfalls bin ich voll beschäftigt damit. 24 Schüler in zwei Räumen. Ohne auf künstlerische Fähigkeiten oder auf Persönliches einzugehen, richte ich das Pädagogische allein auf das möglichst exakte Vermitteln und Sichtbarmachen der wesentlichsten bildnerischen Möglichkeiten. Der Kursus lautet: Gestaltwert der Farbe. Die einzelnen Gebiete, die zuweilen genau getrennt, oft aber auch in Übergängen zueinander stehen, lauten: Allgemeines über die Farbenlehre – Chromatik – Rhythmus – Dynamik – Relation und Funktion – Kontrapunkt. Und als Grundbegriff, daß die Fläche nicht etwas zu Bemalendes ist, sondern selbst an sich zu gestalten sei. Irgend welche Unterlagen oder Hilfsmittel habe ich nicht. Soviel Künstler auch über das bildnerische Gestalten geschrieben haben, über das der Farbe gibt es nur Andeutungen. Ausgehend davon, daß ich eine Harmonielehre natürlich nicht anerkennen kann, daß ich Rhythmus und Dynamik plus Chromatik = polyphoner Satzbau für die Grundlagen halte, bin ich eben darauf angewiesen, aus Eigenem zu versuchen, objektive Erkenntnisse zu destillieren und diese zu lehren – ›Unterweisung im Tonsatz‹. Wobei ich weiterhin davon ausgehe, daß dieser nur in der Relation besteht – für je ein Bild. Wenn auch die Methode dieser Relation das Verbindliche darstellt.

Erziehung zum bildnerischen Denken, zur Methode der Relationen der Farbe, zur exakten Sauberkeit und Sparsamkeit der Mittel. Und ich sage obendrein, daß der Mensch – besonders der Künstler wohl – keine Maschine sei, die im Sinne der Kommunizierenden Röhren existiere, sondern alogische vorhanden sei, je stärker also der Bewußtsein der bildnerischen Mittel sei, desto stärker sei auch das nicht Bewußte, das Unbewußte. Die Anlage zur ›Perforation‹ gehört ja wohl ohnehin dazu. Nach den ersten drei Wochen der intellektuellen Exerzitien, hatte ich in der vierten Woche eine Farbkomposition vorgebracht, ließ sie erst mal nach eingehender Erklärung herstellen und fügte dann zwei Analyse-Übungen bei, die das Endresultat stark beeinflußten.

Heute am Sonntag – den Sonntag brauche ich meist ganz für die Vorbereitung (aber es steht auch eine angefangene Leinwand da) – habe ich den ganzen Tag wieder gegrübelt und Etüden gezeichnet und gemalt. Die Schüler sind ganz bei der Sache, sehr fleißig und enthusiasmiert. Aber davon wird’s nicht leichter. Für mich selbst ist dieser Kursus sehr ergebnisreich, eine Kur. Eine sehr intensive Sache. Die Intensität teilt sich natürlich mit. Ich tue mein Möglichstes und weiß, daß es fast unmöglich ist, mir auch oft so erscheint. Ein Experiment wohl besonderer Prägung. Jedenfalls werden die nächsten vier Wochen interessant und anstrengend sein. Aber es tut mir gut. Das eigene Tun klärt sich durch. Mit dieser Klärung war ich ja schon vorher beschäftigt, doch sind noch genauere Bestimmungen entstanden. Ich werde freier vor der Leinwand stehen. In der ersten Zeit büßt man seine ganze Phantasie ein, dann aber blüht sie wieder auf. […]


[1]     Theodor Werner (1886-1969), abstrakter Maler.

Über den Autor

von E.W.Nay