1.10.1946

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Text eines Faltblattes zur Ausstellung ›E. W. Nay‹
Galerie Günther Franke, München, Oktober 1946

Ernst Wilhelm Nay über sein Schaffen

Die in der Physik sich andeutende Kulmination, wie sie sich durch die neuesten Ergebnisse der Forschung bereits abzeichnet, die Entlassung aus menschlicher Gleichung und anthropomorpher Perspektive, ist der Gegenpol der Kulmination, die dem Künstler den Weg zu den Urerlebnissen der Menschheit freimacht, den zu begehen die europäische Welt durch die betonte Abhängigkeit vom Intellekt behindert war. Die Urerlebnisse können nunmehr als gegenwärtige Wirklichkeit erlebt werden und entziehen sich dadurch nicht mehr der Gestaltung in der absoluten Bildform.

Ein äußeres Ereignis, als Urerlebnis erfaßt, ein Mann steht auf einer Leiter und pflückt Obst, als Metapher Jakobs Traum, wird absolute Form, die sich wieder mit dem Wirklichen des Urerlebnisses füllt. Eine neue Bildwirklichkeit ist das Ergebnis. Absolute Form und reine Lebenskraft ist der Sinn meiner Malerei.

Während der letzten vierzig Jahre haben die französischen Maler die absoluten Mittel der Malerei wiederentdeckt. Als Ergebnis hiervon zeigt sich die Möglichkeit zur Synthese an. Das asketische Formbild des Juan Gris, das esoterische des Braque, die Welt des modernen Velasquez, Picasso, die romantische Welt der Expressionisten, die sich mit impressionistischen Mitteln äußerten, das alles ist geschehen und ermöglicht, daß sich die absolute Form mit wesenhafter Wirklichkeit wieder auffüllen kann. Die Dämonen sind durch die Ordnung, die Bildform, wie sie sich nicht nur als ästhetisches Ereignis, sondern tief gebunden als Lebensereignis darstellt, gebannt und überwunden. Ein mildes, aber starkes Feuer lodert, und die Malerei ist über Klippen und Abgründe hinweg gerettet.

Malen, das heißt aus der Farbe das Bild formen, denn die Farbe ist das Leben der Malerei, Ausdruck der Ursprünglichkeit, die wiedergewonnen ist.

Die Mittel, ein Bild zu formen, sind mannigfaltig genug. Jeder Künstler wird die seinem Wesen entsprechenden bevorzugen, und doch sind sie alle letzten Endes gemeinsam notwendig. Die Farbe muß geordnet sein, zu Farbkreisen zusammengefaßt werden. Einer Reihe von gelben Tönen, Zitronengelb, Kadmiumgelb, lichter Ocker, Orange wird eine Anzahl von zusammengefaßten grünen oder anderen Tönen gegenübergestellt, es werden sich Passagen ergeben, das Gelbe wird das Grüne durchdringen und umgekehrt, wodurch Farbspannungen entstehen und die Bildfläche dynamisch aktiviert wird. Zugleich können die Farben – ein äußerst bedenkliches, nur aus dem einzelnen Bilde zu gewinnendes Mittel – gewisse symbolische Wirkungen enthalten, durch die wieder die Beziehung zum Ausgangspunkt des Bildes, zum Einfall, hergestellt wird. Dann das Relief, das dem Bilde nicht durch die Struktur, sondern im Wandel von kalten und warmen, hellen und dunkeln Farben Tiefe und Bildraum gibt. Damit ist die Möglichkeit gegeben, im zweidimensionalen Bildraum das Dreidimensionale darzustellen, der Bildtiefe durch entsprechende Bildhöhe zu begegnen. Das Grau, das Himmel bedeutet, zum Beispiel einer Figur zuzuteilen, heißt farbig formen. Komponieren aber hieße mit Vorder-, Mittel-, Hintergrund als Plänen arbeiten. Das Ornament, scheinbar ein Schmuckteil, ist ein Mittel, Valeurs anzudeuten, ohne Valeurs malen zu müssen. Diese können trotzdem in den Farbkreisen angewandt werden, wodurch eine hohe Vielfalt der Mittel erreicht wird. Auch kann das Ornament dazu dienen, eine Formgruppe von einer anderen abzusondern oder vor allem als Mittel des betonten Formens von Zwischenräumen.

So werden, nachdem die europäische Moderne die absolute Malerei entwickelt hat, die Mittel absolut und rein verwertet, unverfälscht und direkt. Sie sind so frei geworden, daß – eine der vielen Kulminationen der Gegenwart – sie sich wieder mit Leben zu füllen vermögen, nicht nur sind, sondern auch bedeuten.

Auch das Simultané ist überwunden, jene Zerstückung der Naturform, um die Bildform, das heißt den Bildraum, zu gewinnen, das Dreidimensionale im Zweidimensionalen äußern zu können, ohne den Bildraum im Illusionsraum zu verlieren. Diese Überwindung des Simultané geschieht durch in sich unzerbrochene, geschlossene, dem Gesetz des Reliefs unterliegende Drehung der Naturform, indem alle Ansichten gleichzeitig gezeigt werden, ohne die Gesamtform zu zerreißen, wie es die Kubisten und Futuristen taten. Nunmehr deckt sich die Bildform und die Naturform – allerdings nur für Leute, die, wenn sie heute Hunger haben, nicht gerade gemalte Schinkenbrötchen sehen wollen, von erotischen Wünschen ganz zu schweigen, sondern natürlich genug sind, beides dort zu suchen, wo es zu finden sein könnte. Obendrein ist die Notwendigkeit der Bildform so konsequent erkannt, daß auch der Naturausschnitt nicht mehr Motiv sein kann, sondern das Bildmotiv von sich aus entwickelt wird. Wie oft ist Cézanne, der so ungewöhnlich großartige Erkenntnisse hatte, nicht am Naturausschnitt gescheitert und hat sich dann durch Kompositionsmittel geholfen, etwa durch Parallelen zum Bildrand oder indem er bei großem Himmelsraum den Himmel oben dunkler malte, was eben Kompositions- und nicht Formmittel sind. Es geht nun einmal nicht, ein Bein abzuhacken, weil da gerade die Leinwand zu Ende ist, und dann eine dekorative Beschönigung des Mangels zu erfinden. Dazu sind die Zeiten zu tiefgreifend.

Schön ist es natürlich, wenn der Maler täuschend der Bildform die Naturähnlichkeit hinzufügen kann und somit den Betrachter gütig lächelnd überlistet und ihn von den Abgründen und Vulkanen, die die reine Malerei aufdeckt, fortzuführen imstande ist – zu Illusionen, vielleicht von schönen Frauen, von Palästen und anderem. Doch ist diese menschliche Güte des Malers auch zeitbedingt und die Gegenwart so aufgewühlt, daß nur die äußerste Schärfe der Formaussage hilft, und daher die Vulkane und Abgründe bloßgelegt sind. Und doch soll der Maler ein Bild so kostbar malen, daß allein die Kostbarkeit der Farben über das Brennende, das die Nähe der Gottheit verkündet, hinwegtäuscht. Und so mancher mag dann wohl sagen, daß es schon einiges sei, wenn ein Maler aus den Verbrennungen und Chaosschlacken solche Farbenschönheit zu entwickeln vermag. Man wird dann wohl auch ein Gefühl dafür haben, ob diese Farbenschönheit äußerlich sei oder nicht.

Der Betrachter nun beginnt zumeist mit den Stimulantien. Stimmung, Leidenschaft, Ausdruck, Inhalt, Tendenz, das alles, was er Bild nennt, dient dem Maler nur dazu, seiner Palette die volle Freiheit zu geben. Vom Betrachter gesehen, fängt der Maler sein Bild vom anderen Ende an, bei der Bildform, und bleibt in ihrem Bereich, indem er aus der Naturform die Bildform gewinnt, diese dann allein im Kopf hat und durcharbeitet. Es kann übrigens dem Maler nicht gleichgültig sein, welche Stimulantien ihm die Naturform vermitteln, optische Eindrücke, Ideen, persönliche Erlebnisse, der Mensch, die Landschaft. Die Gedanken des heutigen Künstlers kreisen um den Menschen. In der abstrakten Malerei ist das Erlebnis vom Menschen, die Spanne vom schicksalvoll Naturhaften zur Bildform nur gering, wenn nicht ganz ausgeschaltet. Doch erst die Stärke dieser Spannung sei dem Betrachter das allgemeine Maß zur Beurteilung des Kunstwerkes, denn sie erst stellt seinen wahren Wert dar. Die einen aber wollen es leichter haben, indem sie optische Naturähnlichkeit, die anderen, indem sie reine Abstraktion verlangen.

Die Kunst unserer Zeit kann nur auf dem, was die europäische Menschheit bisher geleistet hat, aufbauen. Erkenntnis, Bewußtheit, mythisch-magische Gebundenheit, Transzendenz, dies sind die Grundlagen, aus denen der Künstler die Urerlebnisse der Menschheit formt.

Das Märchen von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen, und zum Schluß macht es der Wassereimer mit den Fischen. Oder wie Poussin sagt, la fin est la délectation.

Über den Autor

von E.W.Nay