19.9.1948

1

Aus einem Brief an Dietrich Voigt

[…] Es ist schlimm, was Sie da schreiben. Um so erfreulicher Ihr Skizzenbuch, dessen reine Bemühung mir Freude machte. Sie versuchen den Flächenraum, Sie versuchen die negativen und positiven Volumina, Sie lernen von den Kubisten, Sie lernen von mir. Das ist sehr beachtlich. Denn die Natur ist keine Lehrmeisterin, sondern vorhergehende Meister. Ich freue mich, daß Sie die Grundlagen in sich haben, daß Sie vor allem begriffen haben, daß es sich immer um das Bild, nie aber um Tendenzen außerformaler Art handelt, nie um Gefühle, immer aber um die Bildform. Das Kubische von Juan Gris muß sich mit dem neuen Stil, dem modernen Vitalismus verbinden. Bleiben Sie darin so zuchtvoll wie diese Ihre Ansätze, und hüten Sie sich vor den modernen Schwarmgeistern wie Baumeister, Nolde, usw. Dies sind die Jugendstiltendenzen, die eine Seite nur, die dann später den Vitalismus entwickelt hat, aber nichts ist ohne die andere Seite, die Form. Deren Bilder schwimmen – ein untrügliches Zeichen für Formlosigkeit. Zwischen diesen beiden Polen, die die Zukunft bedeuten, wenn Sie zusammenkommen, liegen all die modernen oder weniger modernen Akademiker und Phantasten, Kokoschka, Hofer, die Surrealisten usw. Während ich aus Ihren Holzschnitten nichts herauslesen konnte, finde ich Ihr Skizzenbuch auf dem richtigen Wege. Denn Ihr Holzschnitt war zweidimensional und damit ist nicht weiterzukommen, außer mit irgendwelchen literarischen Tendenzen. Und das wollen wir ja nicht. Arbeiten Sie so weiter, das ist das Einzige, was ich Ihnen im Moment sagen kann. Ob Sie farbig irgend etwas zu Wege bringen, kann ich nicht wissen.

Zu Ihrer allgemeinen Situation bedenken Sie, daß die Katakombe eine gute Zuchtmeisterin ist. Künstler sind die Erniedrigten und Beleidigten, das ist eine Selbstverständlichkeit. Wie ein Akrobat seine kleinen Kinder zu Leistungen hochpeitscht, so soll der Künstler vom Schicksal hochgepeitscht werden. Ich weiß, daß es da eine Zerreißprobe gibt, für jedermann anders gelagert und je nach Anlage früher oder später einsetzend, da darf man nicht heroisch sein, andererseits ist der Westen auch kein reines Glück, Gewissenszwang auch hier, wenn auch das Maß von Freizügigkeit etwas größer ist, das ist ja klar, erheblich größer in den äußeren Umständen. Es ist im Prinzip kein großer Unterschied, ob Sie bei 60-jährigen Demokraten, deren Weltbild verkalkte Fossilien von 1920 enthält, anecken oder bei euren Leuten da. Die Folgerungen für das persönliche Leben sind allerdings sehr, sehr verschieden. Aber ob Ihnen in Leipzig dieser Unsinn gesagt wird oder in Frankfurt auf der Kunstschule erklärt wird, Sie hätten Biedermeier von 1860 zu malen, das ist auch nur ein vom Regen in die Traufe kommen. Immerhin sind, wie gesagt, die Folgen sehr unterschiedlich. Und dieser abstrakte Snobismus hier ist auch kein Glück. Denn die Frage lautet gar nicht mehr ›abstrakt‹ oder ›realistisch‹, die Frage lautet »Synthese der kubischen Bildform mit den geistigen vitalen Tendenzen«. Und diese vermeintlichen Idyllen hier? Zum Kotzen. Berlin wäre an sich das einzig Richtige, doch ist das nun auch vorbei. Und dann kommen wir hier dran. Natürlich ist es zur Zeit hier viel besser, das ist klar, und um dieses bißchen Freiheit willen kann man schon was unternehmen. Natürlich kann man hier malen, wie man will, und ausstellen, soweit reicht es noch und man findet einige vernünftige Leute, ein schmaler Streifen von Freiheit, ein sehr schmaler Streifen, immerhin viel breiter als er Ihnen zusteht. Aber gegen die moderne Kunst gibt es überall harte Gegner, und hier hat die katholische Kirche alle Chancen, Hitlers Intoleranz abzulösen. Aber noch spielt sich das alles in lebendigen Formen ab und es ist dabei durchaus möglich zu sagen, was man denkt. Ein großer Unterschied gegen euer Elend [zu] leben. So könnte man hier durchaus die Hoffnung haben, daß sich neuen Lebensformen aus dem Wirrwarr der Zeit herauskristallisieren, während ihr diese Hoffnung nicht mehr habt. Ab 1. Oktober wird Günther Franke in München eine große Kollektivausstellung meiner neuesten Arbeiten eröffnen – 24 Ölbilder, 20 Gouachen und Zeichnungen. Einen Katalog werde ich Ihnen zuschicken, sowie er da ist.

Arbeiten Sie erstmal so weiter. Aus der ständigen Arbeit und der im Arbeiten entstehenden Erkenntnis mögen Ihnen dann auch mal Gedanken kommen, die Ihnen Ihre eigene Welt, die Welt, aus der Ihnen die Form erwächst aufleuchten läßt. aber das darf man nicht forcieren. Ihr Ansatz ist völlig richtig, machen Sie also ruhig so weiter. Ich möchte Ihnen für das Weitere nicht vorgreifen, damit sich Ihr formales Bemühen nicht zerreißt und Sie dann irgendeiner Schwarmgeisterei verfallen. Aber denken Sie auch ruhig einmal nach, warum wohl die Kubisten Stilleben malten und ich Menschen. Aber denken Sie keinen Gedanken ohne seine formale Entsprechung. […]

Über den Autor

von E.W.Nay