1949

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Aufzeichnung von 1949

Wenn man für die Bildhauerei den Stein oder das Holz als das notwendig sinngemäße Material ansieht, so ergibt sich für die Malerei als sinngemäßes Material nicht die Fläche, sondern die Wand, deren Dicke man spürbar machen muß, was mit der dreidimensionalen Gestaltung zu erreichen ist. Die Dreidimensionalität ist von der Annahme eines Gegenstandes abhängig, denn Dreidimensionalität heißt Körperlichkeit, und Körperlichkeit entsteht nicht aus dem Nichts, sondern aus etwas Vorhandenem, durch etwas Vorhandenes. Über das Vorhandene, den Gegenstand schlechthin, hat die moderne Physik in der Beweisführung über die Materie anhand des Beweises der Materie ›Licht‹ einen zweifachen Beweis ermittelt, den der Welle und den der Korpuskel und es ergab sich, daß beide Beweise zu recht bestehen, ohne daß der eine sich mit dem anderen deckt. Damit ist also der modernen Physik die Akausalität erwiesen (Broglie, Licht und Materie). Pascual Jordan[1], der die Grenzgebiete zwischen Materie und Geist untersucht, stellt eine analoge Akausalität im Psychischen fest. Ein Gegenstand wird auf zwei Weisen wahrgenommen, einmal objektiv, indem ich annehme, daß jeder Mensch den Gegenstand sieht wie ich, einmal subjektiv, indem meine Vorstellung von dem Gegenstand ihn mir wirklich macht. Offensichtlich ergeben beide Beweise ein umfassendes Bild des Gegenstandes, es gehören also beide Beweise zur Feststellung eines Gegenstandes. Und es ist klar, daß eine Verbindung, eine Deckung beider Beweise unmöglich ist. In der Malerei ergibt die Anwendung eines Beweises entweder den Realismus oder das Psychogramm, je [nachdem] ob die objektive oder die subjektive Betrachtung eingesetzt war. Es gibt außerdem noch zwei unklare Einstellungen zum Gegenstand, die eine erhebt den Gegenstand zum Kunstgegenstand im Bilde, versetzt also den objektiven Beweis in die ästhetische Sphäre, ohne daß der subjektive Beweis tätig wird. Die andere will den subjektiven Beweis auf den objektiven aufsetzen, indem man bildgerecht zwar formt, aber unter der Formgestalt den objektiven Gegenstand bestehen läßt. Das ergibt eine psychische Interpretation, der Gegenstand und der subjektive Beweis decken sich also nicht außer durch eine Aussage über den Gegenstand. Wenn ich aber die Wand will, das heißt das körperlich-geistige Bild, so müssen beide Beweise zugleich wirksam werden. Daß ihr Zusammenhang akausal ist, ist die Erkenntnis des gegenwärtigen Menschen. Die dreidimensionale Gestaltung muß also von dieser Erkenntnis ausgehen. Da nun der heutige Mensch die dynamische Anlage als prinzipielles Element seines Wesens erkannt hat, ist die dynamische Behandlung der Wand Ausdruck seiner zentralen Anlage. Die Formbetätigung der dynamischen und dreidimensionalen Möglichkeit der Wand befähigt mithin, indem mit Plänen der Farbe und Form und mit dem fugalen – das ist dynamischen Bau des Bildes gestaltet wird, dasjenige Bild zu gestalten, das der körperlich-geistige Ausdruck unserer Zeit ist, indem es mit diesem Mittel möglich wird, das tatsächlichen Beziehung der Gegenwart zur Außen- und Innenwelt im Bild Gestalt zu geben.


[1]     Pasqual Jordan (1902-1980), Physiker, war maßgebend an der Ausbildung der Quantenmechanik beteiligt.

Über den Autor

von E.W.Nay