1952

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Aufsatz in der Zeitschrift
›Das Kunstwerk‹, 6. Jg., Heft 2, S. 4

Die Gestaltfarbe

Die Frage, ob die Farbe die Form bestimme oder die Form die Farbe, ist seit Delacroix und Ingres dahin beantwortet, daß es Künstler gibt, deren Bildgestalt aus der Farbe und andere, deren Bildgestalt aus der Struktur entwickelt ist. Zwei Arten des Bildes, die als gleichwertig anzusehen sind. Meine Anlage weist zur Farbe als Bildgestalt. Farbe ist also Form.

Farbe ist für mich Gestaltfarbe. Ich gebe der Farbe nicht nur den Vorrang vor anderen bildnerischen Mitteln, sondern das gesamte bildnerische Tun meiner Kunst ist allein von der farbigen Gestaltung her bestimmt. Vom Verstand her ist Farbe nicht zu erfahren, in der Ausdeutung, im Ausdruck, in der Symbolsetzung ist ihr eigentliches Wesen nicht bestimmbar. Farbe kann man nur empfindend sehen. Diese Empfindungen aber stehen auf umfassendem, menschlichem Grund. In ihm ist farbige Gestalt.

Um mit der Farbe als bildnerisches Element umzugehen, bedarf es einer erfundenen, doch durch den Zauber des Schöpferischen in dem lebendigen Wesensgrund gebundenen Methode. Die Bilderfindung selbst ist vollständig unabhängig. Ordnend treten im Entstehen des Bildes die Forderungen der Farbe in ihren Beziehungen zueinander auf. Das Wechselspiel von Erfindung und Ordnung, diese ebenso freie wie exakte Unternehmung, erzeugt den eigentlichen schöpferischen Vorgang, der sich auf der Bildfläche nun nicht mehr in geometrischer, sondern in arithmetischer Tendenz vollzieht. Im Willensakt des bildnerischen Tuns ist die Aussage der Farbe, ihr Ausdruck, nicht enthalten, so daß weltanschauliche, spekulative, romantische Ausdeutungen mit ihm nicht verbunden sind. Die Farbe ist nicht Träger, nicht gesetzt für etwas, sondern Gestalt an sich.

Im Zauber farbbildnerischen Tuns vollzieht sich die Verwandlung von selbst, unangetastet vom Bewußtsein leuchtet das Palliativ aus der farbigen Gestalt des Bildes auf, aus der Farbe, die zugleich Geist und Körper ist.

Über den Autor

von E.W.Nay