22.2.1951

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Aus einem Brief (Name des Adressaten unkenntlich gemacht)

[…] die Frage, ob ein Künstler gegenständlich, abstrakt oder ungegenständlich arbeitet ist eine Frage seiner Weltanschauung und nicht eine Frage der künstlerischen Gestaltung. Es ist – siehe Heideggers ›Ursprung des Kunstwerks‹ – Symptom der Zeit, daß es freisteht, unentschieden ist, ob der Künstler vom Gegenstand ausgeht, induktiv arbeitet, oder zum Gegenstand hingeht, deduktiv arbeitet. Entscheidend ist, daß er sich entscheidet und dabei jeweils von einem gestaltenden Grundprinzip ausgeht. D.h. zum Beispiel, daß sein bildnerisches Anliegen etwa von folgender Aufgabe geleitet wird: senkrecht sich aneinanderreihende und sich durchdringende positive und negative Volumen, durchkreuzt durch schrägstehende derartige Volumen. Dabei ist dann das Augenmerk auf die Auswägung der Volumengrößen zu richten und das Spannungsverhältnis dieser zwei Grundformen senkrecht und schräg, an sich unverbunden, bei voller Ausprägung des einzelnen Formrhythmus, scharf gegeneinander auszuspielen.

Ein drittes Spannungsverhältnis – und mehr wie drei wird man nie mit Erfolg anwenden können – ist dann der Unterschied zwischen Kugel, Halbkugel und Walze oder Kugel gegen Würfelformen.

Erwägungen dieser Art sollten die eigentliche Triebfeder künstlerischen Tuns sein. Woher sich solche Gestaltungsvorgänge konzipieren, welche Stimulanzien dazu führen, ist jedermanns Privatsache und auch wo er hinauskommt, ist seiner eigenen Anlage überlassen.

Der deutsche Künstler hat – gefühlsbetont und romantisch angelegt – einen scheinbar längeren Anlauf als z.B. der französische. Sein Aufwand ist, wie man immer wieder sieht, ungeheuer groß und die Widerstände, die er selbst aufstellt, von denen er oftmals Entzündung erwartet und erhält, sind riesig. Ein Meister ist, wer mit den Gestaltprinzipien spielend umgehen kann, die schärfsten Spannungen herstellt und sie, ohne sie abzuschwächen, zur harmonischen Ganzheit zu verbinden vermag. Ist er ein Künstler, ein lebendiger Mensch, so ist die Gefahr des Formalismus ausgeschaltet, denn das Spielen mit solchen Spannungen ist hochexplosiv und lebenszündend und das Ergebnis dann von selbst lebendig. […]

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von E.W.Nay