27.11.1953

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Vortrag an der Hamburger Landeskunstschule, Hamburg 27.11.1953

Gestaltwert der Farbe

Nicht von den Stilformen, sondern von den Gestaltungsvorgängen der gegenwärtigen Kunst wurde die Form dieser Unterweisung über die Farbe bestimmt. Für mich war es eine interessante, ja enthusiasmierende Unternehmung, den Versuch zu machen, das, was ich selbst an Methodischem gefunden habe, zu objektivieren – in der Erkenntnis, daß jede objektiv gesetzte Methode des bildnerischen Tuns die Kunst unserer Zeit mitbestimmt – und dann zu sehen, daß es möglich ist, heute methodisch über die Farbe zu lehren.

Ich fand eine eigenartige Form der Unterweisung. Ich machte vorerst mit einigen Elementen, besonderen schon, bekannt, und dann entwickelte ich sehr bald Modelle. Modelle, die sozusagen auswendig zu lernen waren, indem es sich darum handelte, diese Modelle in ihren bildnerischen Vorgängen denkend zu erfahren und im optischen Vollzug bildnerische Erkenntnisse zu gewinnen. Vom gesetzten Modell bis zur Ausführung blieb genug Spielraum für den einzelnen. Mir lag daran, diese Unterweisung so bewußt wie möglich zu führen, andererseits das Theoretische nicht im Abstrakten hängenzulassen, sondern im optischen Vorgang des farbigen Gestaltens im Zusammenschluß von Denken und Empfinden die Erkenntnisse zum Ereignis zu erheben. Modelle also, Exempel, die das jeweilig anliegende Grundthema einer Gestaltungsform entwickelten, so aber, daß sich nicht nur Variationen daraus ableiten lassen, sondern eine ganze Reihe diesem Grundthema angegliederter Formthemen ebenfalls von der Methode des einen Modells aus erdacht werden konnten. Immer gab es dabei Überschneidungen. Sie mußten, um das Erwägende klarzumachen, möglichst vermieden werden. Die einzelnen Übungen waren voneinander getrennt zu halten, und doch war das Zueinander der Übungen ein Gleichzeitiges. Erst am Schluß des Kursus entstanden eigene Kompositionen der Schüler, aus den Erfahrungen des Ganzen entwickelt. Mein Unterricht war Unterweisung, nur in den letzten 14 Tagen habe ich korrigiert.

Ich möchte nun den Kursus in den einzelnen Übungen vorführen, danach noch über die eigentlichen Voraussetzungen sprechen.

Die erste Übung:

Spannung der Grundkräfte. Um zu zeigen, daß Farben untereinander Spannungen zu entwickeln vermögen, habe ich Max Burchartz’ Übung aus dem Buch ›Gleichnis der Harmonie‹ vorgeführt. Hier schon konnte zutage treten und klarwerden, daß viele, sehr viele Variationen möglich sind, von denen eine vielleicht als eine möglichst ausgewogene angesehen werden könnte. Ich vermochte hier schon zu zeigen, daß ich den Weg der ausgleichenden Harmonie nicht zu gehen vorhatte, daß die Farbenlehre und die Harmonielehre, wie sie bisher gehandhabt und erkannt wurden, sich aus der wissenschaftlichen, physikalischen Welt herleiten, ihren Ursprung in der Welt des Meßbaren haben und daß die exakte Meßbarkeit dieser Lehren oder eine wenigstens methodische Meßbarkeit dieser Lehren vollkommen ungewiß ist. Die Welt des Meßbaren war zu verlassen, die Relation enthält die Möglichkeit der Methode. Ich erklärte bereits bei dieser Übung, daß die absolute Farbe für das bildnerische Gestalten nicht existiert.

Die zweite Übung:

macht mit dem Rhythmus bekannt. Der Rhythmus der Fläche ist das Grundthema der bildnerischen Gestaltung aus der Farbe in unserer Zeit. »Im Rhythmus liegt letzten Endes das Weltgeschehen« sagt Gottfried Benn. Rhythmus der Fläche, nicht Form auf der Fläche. Rhythmus als Wiederkehr ähnlicher und verwandter Gestaltungsmerkmale in Schwingungsverhältnissen – so definiert Max Burchartz. Diese Übung wurde als einfaches Exerzitium durchgeführt.

Die dritte Übung:

Fläche und Veranstaltung. Die Fläche ist Flachheit, ebenes Flachsein. Von einem Farbfleck verletzt, wird die Fläche Untergrund, d.h. Folie, der Farbfleck das darauf Gesetzte. Die Folie ist durch die gestaltende Farbe, die Gestaltfarbe, zur Gestaltfläche zu erheben. Die Fläche wurde in dieser Übung durch freigesetzte krapplackrote Rechtecke sichtbar gemacht. Die Veranstaltung wurde ohne Bezug auf die Krapplackformen, also für sich existierend, in dynamischem Gegeneinanderüberfließen von zwei Farben, Blau und Gelb, mit der Andeutung der Diagonalen dargestellt. Ein dichter Komplex Blau ergießt sich in den gelben Komplex, ein dichter Komplex Gelb in den blauen. Man erkannte bereits das kontrapunktische Setzen. Zwei getrennte Flächenveranstaltungen begegnen sich – die krapplackrote und die blau-gelbe – als eine Fläche. Die Bezogenheit (Kontrapunkt) ist die Fläche. Kontrapunkt ist ein Komplex von Bezogenheiten, d.h., es werden mehrere Farben selbständig zu führen sein.

Die vierte Übung:

Fläche und Rhythmus. Wurde in der zweiten Übung die Definition des Rhythmus bekannt, so heißt es bei dieser Übung, die Fläche selbst als gesamte Farbgestalt zu rhythmisieren. Die untrennbare Vereinigung von Fläche und Farbe wird sichtbar. Der gestaltende Wert der Farbe und der gestaltende Wert der Fläche vereinen sich.

Die fünfte Übung:

Noch immer und weiterhin ist der denkende Vollzug wichtiger als die Gestaltung selbst. Die Fläche sollte nunmehr mit der Veranstaltung in Verbindung treten. Die Veranstaltung ist die bildnerische Durchführung des Formmotivs. Formmotiv ist Flächengestaltung des Motivs. Die Veranstaltung ist Erfindung. Soll Fläche und Veranstaltung in Verbindung treten, werde ich beide aktivieren. Die Fläche, indem ich sie unregelmäßig teile, in zwei Farben teile, leicht dynamisch akzentuiert. Die Veranstaltung, indem ich ihr einen Bewegungs- und Richtungsakzent gebe. Übrigens nahm ich für diese Übung als nun einmal einfachste Formsprache geometrische Formen, die hier nicht als stilbildendes, konstruktives Element zu verstehen sind. Setze ich nun beides, Fläche und Veranstaltung, so fehlt noch immer die Verbindung. Ich übersetze daher aus der einen Farbe eine Figuration in die andere Farbfläche, mit der ich sie verbinde und umgekehrt. Die Gegensätzlichkeit von Fläche und Veranstaltung besteht weiterhin, und doch ist die Flächeneinheit – bildnerisch denkend wenigstens als Übung – vollzogen.

Die sechste Übung:

Die fünfte Übung zeigt deutlich positive und negative Werte, d.h. figurative und nichtfigurative, aktive und passive Werte. Sie sind in der sechsten Übung kennenzulernen, um später mit ihnen zu formen oder sogar sie aufzuheben. Aber erst einmal kennenlernen. Ich nehme die vorige Übung und setze zu der dynamischen, figurativen Veranstaltung eine ähnliche mitlaufende hinzu, so aber, daß der dazwischen entstehende Flächenwert ebenfalls als Figuration erkennbar ist. Diese Zwischenform ließ ich so hervorheben, daß sie sich aus einem negativen Wert in einen positiven verwandelte.

Die siebte bis neunte Übung:

Für diese Übungen arbeitete ich einen Vortrag aus, den ich am 25. Oktober meinen Schülern vorgelesen habe und den ich anschließend wiederhole. Durch diesen Vortrag werden Sie einen sehr genauen Einblick in die Art der Unterweisung bekommen.

Die zehnte Übung:

Natürlich mußten bei diesen Übungen 7 bis 9 bei dem ausgiebigen Fragenkomplex, der angeschnitten wurde, Unklarheiten der Fläche auftreten, die angegangen werden mußten. Noch wollte – das denkende Erfassen stand ja im Vordergrund, der optische Vollzug sollte die eigene Erfahrung vermitteln – die Fläche nicht existent bleiben. Ich mußte die Frage, Fläche zu Rhythmus, Wechsel von aktiv zu passiv, positiv zu negativ, exakt einzeln als Modell vorführen. Negatives Gelb als Fläche, dasselbe Gelb positiv als Form, so Rot, so abgewandelt Blau. Zur Sichtbarmachung der Fläche, zur Vereinfachung der Aufgabe, fügte ich eine Schwarzweißveranstaltung bei.

Die elfte Übung:

Eine kleine Variation von Übung 10.

Die zwölfte Übung:

Diese Übung forderte die Übenden zu erster Selbständigkeit auf, indem ich lediglich Grundformen zur Verfügung stellte, die in einem Gestaltungsvorgang zu formulieren waren. Diese Formulierung ließ ich von allen nachmachen. Verzahnung und Figuration als Fläche. Man sollte Flächenvolumen in Figuration und Nicht-Figuration und den echten Flachraum kennenlernen. Diese Übung hebt den Unterschied von positiven und negativen Werten auf. Der Unterschied von Figuration und Nicht-Figuration ist stark vermindert.

Die dreizehnte Übung:

Sie sahen bis jetzt den Gestaltwert der Farbe, Chromatik, die Gestaltfläche, Rhythmus, Dynamik, kontrapunktische Setzung von Farben und Formen. Die Aufgabe lautete nun zu erfahren, was unter Farbkreisen zu verstehen ist. Farbkreise sind Komplexe sich ähnelnder Farben, z.B. mehrere gelbe Farben zusammen oder mehrere gelbe Farben als Hauptthema einer Bildfläche überhaupt und in diesem Sinne dasselbe mit anderen Farben.

Ein kleiner, bunter, willkürlicher Komplex von Farben war zu setzen, und aus ihm waren die Farbkreise herauszuziehen. Die Ergebnisse sind als Modell zu verstehen, und hier zeigt sich, wie man aus diesem Modell, indem man, wie ich vorher sagte, einzelne Farbkreise für eine Bildfläche entwickelt, weitere Grundthemen entwickeln kann. Auch hier sind die geometrischen Formen nicht als konstruktive Formen anzusehen.

Die vierzehnte Übung:

Freie farbige Gestaltungen. Jeder sollte mir sagen, was er gemeint hat. Ich begann, den Schülern zu folgen und korrigierte.

Bemerkenswert ist übrigens, daß eigentlich bei jeder Übung jeweils ein anderer die beste Lösung brachte. Oft stellen sich bei einem solchen Kursus kleine Gruppen heraus, die besonders gut folgen und arbeiten, während die anderen langsamer nachkommen. Hier gab es keine Teams, und man mag das möglicherweise dahin auslegen, daß der Kursus in sich sinnvoll angesetzt war.

Voraussetzungen

Die Voraussetzungen, die zu diesem Kursus führten, sind folgende:

1. Die Verpflichtung zum echten Bildflachraum,

2. die Abkehr von den wissenschaftlichen Einbrüchen in den Bereich der Kunst,

3. das bildnerische Tun als eine Folge von Rechenexempeln, die mit der Empfindung aufgehen. Zitiert nach Hölzel.

Diese Bemerkung Hölzels klingt etwas paradox, ist aber das, was ich meine, d.h., bildnerisches Denken ist nicht intellektuelles Denken, ist ständiges Forschen an den Mitteln, und es entzieht sich der meßbaren Welt des Intellekts, der wissenschaftlichen Welt durch die Empfindung, die aus dem Wesen des Menschen strömt.

Der Bildflachraum steht im Gegensatz zum Scheinraum. In der europäischen Welt gibt es den Bildflachraum, in der ägyptischen Kunst, im frühen Hellas, in Byzanz, in der Romanik, der Frühgotik, und wurde seit dem Impressionismus im 19. Jahrhundert zum endgültigen Anliegen unserer Zeit. Renaissance und Barock entwickelten den Scheinraum. Der späte Impressionismus, Cézanne, der Kubismus, weisen die Umwandlung des Scheinraumes in den Bildflachraum auf. Die letzte Phase des Kubismus stellt den Bildflachraum als Vermächtnis für die Nachfolgenden auf.

Kandinsky erfindet die Grammatik als Methode der Gestaltung aus dem bildnerischen Element. Diese Grammatik entwickelte er aus der Farbenlehre und der Möglichkeit einer Harmonielehre. Um dem physikalischen Charakter der Grammatik zu entgehen, erfindet er Symbolwerte der Farbe, Symbolwerte der Form.

Noch ist die Fläche als gestaltender Wert eine Frage, die Klee und Mondrian endgültig entschieden haben. Ich gehe hierbei nur auf die Frage der echten Flächengestaltung ein und halte meine Gedanken von anderen Erwägungen, etwa über Stilformen, frei. Anstelle der Farbenlehre und Harmonielehre treten neue Erkenntnisse, die zu methodischem bildnerischen Tun ermutigen.

Ich kann gar nicht anders, als von der gegenwärtigen Erkenntnis aus die Unterweisung setzen, und Sie sahen, daß sich daraus Methodisches ergibt, das von einer Verengung her ins Objektive sich erweitert und eine breite Basis für das bildnerische Gestalten ergibt, die von einer in eine bestimmte Richtung getriebenen Stilbildung abzusehen vermag. Es handelt sich hier also nicht um Unterweisung im Hinblick auf abstrakte oder gegenstandslose Malerei, sondern um Unterweisung elementarer Gestaltungsereignisse, die für alle Kunst des echten Bildflachraums, auch der gegenständlichen Darstellung, Hinweise gibt. Die Zeit von zwei Monaten erwies sich als sehr geeignet, die Grundformen in Exempeln, in Modellen, intensiv sichtbar zu machen, aus denen weiterhin in der Ausbreitung der einzelnen Gebiete der Schüler weiter zu arbeiten vermag.

Warum heute die Forderung des Bildflachraumes?

Mit der Renaissance beginnt eine Raum- und Zeitauffassung, ein Raum- und Zeitbegriff des Meßbaren, ein zeitgebundenes, zu Recht entstandenes Weltbild. Die Französische Revolution ist der Moment des Höhepunktes dieser Ideen. Mit dem Anfang unseres Jahrhunderts beginnt die Umwandlung in ein Weltbild, das den echten Raum- und Zeitbegriff wiedergewinnt. Jean Gebser[1], der Schweizer philosophische Schriftsteller, sagt: »Der echte Raum ist nicht meßbar – er ist Geist.« Anstelle des meßbaren Raum- und Zeitbegriffs tritt die Intensität.

Nicht Konstruktivismus, nicht Kunst als Gefühlsaussage, sondern Kunst als Gestaltung, in der die Mittel selbst Kunst sind, ist die Grundlage meiner Unterweisung.

Wir wissen, daß die Formen unserer Gebrauchsgegenstände von solchen Einzelzellen der freien Kunst aus abgeleitet wurden (Jugendstil, später Bauhaus) und weiterhin abgeleitet werden. Daß also der Studierende hier auch in dieser Beziehung einmal an der Quelle gesessen hat. Und zweitens lernt der Studierende die Kunst der Gegenwart, die Kunst unserer Zeit und die Mittel unseres bildnerischen Tuns heute kennen und verstehen, um später darauf Empfindungen und Erkenntnisse aufsetzen zu können, aus denen sowohl Künstlerisches wie Pädagogisches erwachsen kann.

Vortrag für die Übungen 7 bis 9:

Heute kommt ein großer Komplex von Fragen auf Sie zu:

1. Feststellung der Situation und der Grundlagen

2. Die Übung; die erste Farbkomposition

Die Situation und die Grundlagen müssen erwähnt werden, damit Sie die Übung in ihrem bildnerischen Sinn verstehen, als bildnerisches Exerzitium. Waren in den vergangenen Übungen und Überlegungen die Kräfte der Fläche das zu Untersuchende und hatte dabei die Farbe die Aufgabe der Ausdeutung dieser Flächenkräfte, so wird es jetzt die Farbe sein, die diese Kräfte erzeugt.

Die Versuche einer Harmonielehre der Farbe haben nirgends Ergebnisse erzielt. Ich muß davon genauer sprechen, obwohl ich es schon andeutete, wieso einige Vorstellungen von der Farbe, die man glaubt haben zu können, nicht zu Ergebnissen gestalterischer Arbeit führen. Sicher kennen Sie das pädagogische Skizzenbuch von Klee und haben von Kandinskys Buch ›Punkt und Linie zu Fläche‹ gehört. Beide Künstler haben über die Farbe nichts genaueres Theoretisches geäußert. Von den Farbenlehren sprach ich schon. Die von Hölzel ist der neueste Versuch eines Farbdogmas. Ich weiß heute als Künstler, daß die wissenschaftliche und naturwissenschaftliche Welt, die Welt der Physik, die Welt des Meßbaren, aus der Kunst draußen zu bleiben hat. Ich sehe, daß all denen, die an die Harmonielehre der Musik glaubten, eine verbindliche Harmonielehre der Farbe nicht gelingen konnte. Die bedeutenden Geister, die tiefer sahen, konnten sich nicht auf eine Harmonielehre einlassen. Da andererseits die echte Flachraumgestalt des Bildes wieder bewußt wurde, habe ich daraus die Folgerung gezogen, daß für das bildnerische Gestalten die Farbe nur relativ vorhanden ist, d.h., somit habe ich für das bildnerische Gestalten unter allen Farben eine Auswahl zu treffen. Eine Auswahl, die nur für jede einzelne Arbeit gelten kann, doch die Ordnung, nach der ich insgesamt strebe, entsteht auf Grund der Methode, die mir für diese Auswahl zur Verfügung steht.

Die Musik hat in der Harmonielehre eine Methode entwickelt, die Tonleiter, die Tonbeschränkung ergibt und im Generalbaß die verbindliche Übereinkunft herstellt. Der Generalbaß ist eine ununterbrochen fortlaufende Instrumentalstimme und gibt die harmonische Grundlage eines Musikstückes ab – für jeden vollstimmigen Tonsatz, für jeden anders, aber gleichgeartet. Dies also müßte es im bildnerischen Gestalten auch geben. Es scheitert daran, daß sich einmal aus den unzähligen Farben der Natur zwar drei Grundfarben und drei Nebenfarben plus Grau entnehmen lassen, daß aber daraus in keiner Weise fest zu begreifende Tonfolgen im Sinne der Tonleiter abzuleiten sind, denn die Vielfältigkeit der Farbabstufungen zwischen diesen sechs Grundfarben ist nicht festzulegen. Es entstehen keine fixierbaren Intervalle. So kann auch ein Generalbaß für die Farbe, wie ihn Goethe forderte, nicht entstehen. Zu dieser Vielfältigkeit der Tonfolgen kommen die Unterscheidungen in warm und kalt, hell und dunkel, vorliegende und zurückliegende Farben hinzu. Und die Verschiedenheit der Größe der Farbflächen, in denen die Farben auf der Fläche in Erscheinung treten.

Aber der echten Gestaltform der Fläche nachspürend, finde ich diejenigen zugrunde liegenden Formmittel, mit denen ich Sie in den abgelaufenen drei Wochen bekannt gemacht habe: Rhythmus, Dynamik, Kontrapunkt. Ein echtes Gerüst für die Farbsetzung, die, indem sie sich mit diesem Gerüst verbindet, ja, indem sie – das ist die nächste Aufgabe unseres Tuns – dieses Gerüst entwickelt, in chromatischen Sätzen zu formulieren ist. Diese Grundformen miteinander klingen zu lassen und zur Komposition, zur Gestaltung des Bildes zu erheben, ist ja dann die eigentliche Frage. Eine solche Konstellation wird sich in Relationen vollziehen, diese Relationen aber beziehen sich auf eine methodische Grundordnung, die in stärksten Spannungen auszutragende chromatische Kontrapunktik. Eine empfindliche Tastatur der Sinne, ein naives Vereinfachen der Empfindungen, ein klarer Geist, das wird viel zum Gelingen beitragen. Und eine Ahnung davon, daß unsere Zeit auf diese Weise den Quellen nahe ist.

Die Übung

Farbe also existiert für den bildnerischen Menschen mithin in der vorweggenommenen Auswahl der Farben und der Relation der ausgewählten Farben zueinander. Ich wähle also nach der chromatischen Spannung aus. Der chromatischen Spannung kann ich als ersten komplexen Unterschied die Spannung kalt–warm zugrunde legen oder hell–dunkel. Die Setzung in kalt zu warm ist diejenige, die das Elementare der Farben am stärksten enthält, wenn auch die andere Unterscheidung hell–dunkel immer mit im Spiele ist. Ich muß aber eine der beiden Forderungen zur Dominante erheben. Ich wähle also kalt–warm. Die warmen Farben – als Dominante gesetzt – werden daher in Auswahlzahl und Flächenvolumen stärker vertreten sein als die kalten. Und die kalten Farben in geringeren Flächenwerten. Jeder der kalten und warmen Farben gebe ich die Möglichkeit der Variation. Die Variation des warmen Farbkomplexes lautet: Orange, Zinnober, Krapplackrosa. Drei Werte; die der kalten in zwei Werten: Pariser Blau hell und Kobaltblau. Krapplack und Pariser Blau sind mit Weiß zu mischen. Da ich auf die Hell-Dunkel-Situation als Dominante verzichtet habe und das Pariser Blau aufhelle, soll es nun schon bestimmend heller sein als die warmen Farben. Ich gleiche also nicht aus, sondern suche den Charakter dieses hellen Pariser Blaus auszunutzen. Hier also beginnt die Komposition. Noch helfe ich Ihnen mit Regie, bis Ihnen die Komposition von selbst einleuchtet und zufällt.

Warm und kalt stehen sich im Verhältnis 3:2 gegenüber. Die warmen Farben haben das Übergewicht. Noch fehlt mir die Sichtbarmachung der Beziehung der warmen Farben zu den kalten. Die festgelegten Farbwerte Orange, Zinnober, Krapplackrosa, Kobaltblau, Pariser Blauweiß gemischt, will ich unverändert und an sich nicht in ihren Farbwerten bezogen setzen. Ich brauche also eine Farbe, die sowohl zu den warmen wie zu den kalten Farben Beziehung hat. Beide Komplexe zielen auf Grau. Grau ist indifferent. Ich suche eine Farbe, die – theoretisch von Grau entwickelt – die ähnliche Situation wie Grau aussagt, und finde Violett. Enthaltend Rot und Blau. Eine Erhöhung des Graus. Will ich nun zeigen, daß diese drei Farbkomplexe, warm-kalt und dazwischen Violett klingen, füge ich ihnen zur Beunruhigung eine diesem Gesamtklang völlig fremde Farbe hinzu, eine Farbe, die mit dieser Kontrapunktik nichts zu tun hat, die aber, indem ich sie in kleinen Werten einfüge, den Prozeß als solchen erst ganz sichtbar macht – ein Permanentgrün. In kleinen Werten vollzieht es die notwendige Störung und betont die eigentlich wirkenden Spannungen. Ich habe damit eine Farbkomposition, die in einer in Relationen zueinander gesetzten Auswahl von kalten und warmen Farben, mit Übergewicht der warmen Farben, besteht und die durch das kontrapunktisch wirkende Violett sichtbar wird. Die Gegensätzlichkeit des Grüns zu diesem Vorgang erhöht die Spannung der Farbkomposition. Das rhythmisch-dynamische Gefüge wird nunmehr also von der kontrapunktischen Farbenreihe bestimmt. Oben, unten, rechts und links, die Diagonale, waagerecht und senkrecht sind nun zu bedenken. Waagerecht und senkrecht in kleinen Werten. Die Diagonale, das Dynamische, ist wichtiger. Aus ihr leiten sich die Richtungen ab. Blau also, als die leichtere und geringere Farbreihe, wird nach unten gesetzt, die Schwerkraft aufhebend. Ein Zeichen der Zeit! Zugleich eine Aufwärtsbewegung machend, dem Leichten den Weg des Leichten eröffnend. Die Rotwerte liegen als schwere Werte links oben und ziehen sich im Formwechsel in der Diagonalrichtung nach rechts unten – fast. Nicht ganz. Unten rechts, bei der Ankunft der roten Werte, erleichtere ich den Aufschlag durch Hellblau. Gewichte des Blaus verlagere ich in die roten schweren Flächen nach links oben. Zugleich erhalte ich damit für das Blau positive und negative Werte, denn die Fläche muß existent bleiben. Orange und Krapplack in einfachen, verschieden großen Quadraten – Blau in einer Figuration. Zwischen beiden Farbreihen als zweite Figuration das Violett. Auch dies wird einmal Figuration, ein anderes Mal Negativwert sein, so daß die violette Figuration im Entstehen gezeigt wird. Auch das Rot wird im Violett links unten als kleine Quadratform kompositionell notwendig sein und als betonter Positivwert, während ich das Blau rechts oben ein klein wenig in das Violett hineinnehme. Das Grün als Störung tritt im Violett neben dem Rot auf und nimmt die Negativform, zwischen Violett und Hellblau schwingend, ein. Übrigens wird es recht sein, der entstehenden Violettfiguration eine kleine Verbindung über die Rotwerte mit violetten Punkten zu verschaffen. Die Balance der ganzen Farbfläche entwickelt sich durch Greifen und Hinübergreifen der Farben zueinander. Eine Farbkomposition entsteht.

Schon bald zu Beginn der Ausführung dieser Übungen ergab sich, daß es in diesem Falle besonders schwierig war, der theoretischen Unterweisung den optischen Bezug folgen zu lassen. Ich sah mich veranlaßt, zwei Übungen als Auszüge einzuschalten, nach deren Verständnis dann die Ihnen hier gezeigten Ergebnisse der Übung ›Farbkomposition in dynamischen Setzungen‹ als für diese Übung Endgültiges entstanden. Die Auswahl der Farben, der Tonsatz, mußte festgestellt und optisch erfahren werden. Ich ließ ein graphisches Gerüst anfertigen, in das in unabhängigen Flecken die vorgesehenen Farben eingesetzt werden sollten. Nachdem der Tonsatz festgelegt und erkannt war, ließ ich in einer zweiten Zwischenübung die dynamische Wirkung der Farben, die Richtungen der Farben ausarbeiten. Nach diesen Auszügen wurde die Farbkomposition nochmals entwickelt.


[1]     Jean Gebser (1905-1973), philosophischer Schriftsteller, versuchte in Analysen den durch Technisierung und Verwissenschaftlichung hervorgerufenen Wandel des europäischen Wirklichkeitsbewußtseins zu erfassen. Prägte den Begriff des ›aperspektivischen‹ Weltbildes.


Über den Autor

von E.W.Nay