Aus einem Brief an Günther Franke
[…] In dem mir so natürlichen Ablauf von Systole und Diastole, dem Ein- und Ausatmen, bin ich nun in den neuen Bildern zur deutlichen Klarheit des reinen Formbildes gekommen. Ich habe mich bemüht, das gesamte formale Bild so zu gestalten, daß jede einzelne Form eine reine Gestaltungsfunktion im Bilde ausweist. Nicht so ohne weiteres wird man die Ordnungskraft dieser Bilder ablesen, das deutlich entwickelte Relief, die fugale Ordnung der Farben, überhaupt den ganzen betont bewußten Gestaltungsvorgang, durch den ich mich deutlich von der gestaltlosen und hintergründig sein wollenden Kunst unserer Tage abhebe, die ich für eine Libertinage halte. Bei dieser klaren und bewußten Gestaltung aber verdeutlicht sich die innere Wirklichkeit, diese Bilder sind konkretisiert, sehr konkret. Es ist so, daß diese selbe Anschauung in den Bildern der letzten Jahre enthalten war, nur war sie verschleiert und leidenschaftlich durchgeglüht, während diese neuen Bilder verhältnismäßig ruhig und sogar teilweise kühl sind. Darüber bin ich ganz glücklich. Diese 24 Bilder zeigen einen geschlossenen Weg auf, der mit der ›Suzanne‹ beginnt, eine große Erweiterung erfährt in den Bildern ›Metaphorische Figuren‹ und ›Hirte III‹ – einmal in die freischwingende Bildform, der ein festes Gerüst unterlegt ist bei gleichzeitiger Angabe von überdeutenden Grundformen, und das andere, der ›Hirte III‹, klare archaische Formulierung des Hirtenmythos, ein Bild, das, wie Haftmann sagt, in Italien auf einem Landsitz im großen Speiseraum hängen müßte und das den Hirten des Landes eine Art Kultbild wäre – und schließlich zum Harfe spielenden David führt, wiederum eine Zusammenfassung auf einer höheren Stufe. Dieses Bild enthält das zur Zeit äußerst Mögliche meiner Kunst und scheint mir ein sehr glückliches Bild zu sein. Es verbindet das mir bisher mögliche äußerste Maß an Freiheit mit formaler Zucht. Sagte doch so schön ein Besuch, diese Bilder strömten eine helle Geistigkeit aus. Sie versuchen eben das Amorphe durch die geordnete Bildgestalt zu bannen, das Amorphe, das in der Vermassung unserer Tage Zeitsymbol ist. Damit ist das phantastische formlose Herumwühlen in den Eingeweiden beiseite geschoben und eine Ordnung hergestellt, die in der Gegenwart und aus der Gegenwart des heutigen Menschen gewonnen ist.Zurückschauend auf diese Bilder der letzten Zeit sehe ich, daß der geistige Grund, der lebendige Quell nun stark genug war, um das formale Bild direkt anzugehen ohne die Besorgnis zu haben, formalistisch zu bleiben. Wenn Bernanos[1] eifert, daß eine Kunst ohne Gott Unding sei, eben eine Libertinage, so sage ich, daß ich außerhalb der betont christlichen Religion, der ich, wie die christliche Kunst in der Kölner Ausstellung ausweist, keine allgemein grundlegende Aussagekraft mehr zugestehe – das Christentum kann nur in der Katakombe, im Einzelnen umfassend stark noch sein – so sage ich, daß ich den Kern berührt habe, in dem die gebundene Freiheit des heutigen Menschen Gestalt wird. Damit ist auch hier die libertine Freiheit des bindungslosen Menschen ausgeschaltet und ich sehe, daß das alte Wort ›réaliser‹ einen neuen Sinn erhalten hat, nämlich den, die Bildwirklichkeit, die formale Bildwelt, bruchlos mit dem Verwirklichungssinn des heutigen Menschen zu verbinden. Der Verwirklichungssinn will dem Gegenstand, einem Bleistift z.B., hinzugefügt werden, damit aus der Chimäre des Gegenstandes Wirklichkeit wird. Es hängt also von der Stärke dieses Sinnes ab, wieweit der Sinn zum Verwirklichen sich mit der äußeren Wirklichkeit identifizieren kann. Das Ganze spielt sich auf einer freien und offenen Ebene jenseits aller Position oder Opposition ab. Hier scheint mir auch etwas betont Europäisches sich zu äußern, nämlich, daß die Kräfte, die den Europäer gebildet haben und die ihren Standpunkt entweder verschoben oder verloren haben, in einer Neuordnung wieder aktuell werden, die Vernunft, die das formale Bild ordnet, der Körper, der die Substanz hergibt, die Seele, die die Kontemplation trägt, der Geist, der die Einheit baut. […]
[1] Georges Bernanos (1888-1948), französischer Schriftsteller, Hauptvertreter der christlichen Literatur, dessen Hauptwerk ›Die Sonne Satans‹ in der Nachkriegszeit große Beachtung erfuhr.