30.3.1947

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Aus einem Brief an Willi Baumeister

[…] Bruchstücke unserer Unterhaltung in einer törichten Atmosphäre geben den Anlaß zu diesem Brief, dessen Inhalt eigentlich ein Gespräch in Ruhe hätte erledigen können. Hätte ich in Stuttgart ein Hotelzimmer gehabt, wodurch ich des Gefühls, anderen zur Last zu fallen, enthoben gewesen wäre, so wäre ich um dieses Gespräches willen, um das ich Sie dann gebeten hätte, noch dort geblieben.

Aber ein Brief hat auch seine Vorteile.

Abgesehen von dieser ›Neugründung eines Bundes‹, an der ich aus inneren und äußeren Gründen – ich bin ein Eigenbrötler und ziehe jede Art von Unsicherheit der Sicherheit vor – nicht eigentlich interessiert bin, außer in sehr viel weiter gesteckter Perspektive, möchte ich Ihnen meine Gründe zur Loyalität doch kurz darstellen.

Die absolute Malerei sowie die absolute Abstraktion ist die Leistung der jetzt 60-70jährigen mit vielen Verzweigungen und Ausläufen auch bei den Jüngeren. Die Gegenwart trägt in sich die Hoffnung für Synthese, wobei es an jenem Teil notwendiger Rückschritte, die mir nun allerdings schon im letzten Stadium der Entwicklung zu liegen scheinen, nicht fehlen kann.

Diese Synthese besteht in der Identität von absoluter organischer Bildform und der Zusammenfassung der bildformenden Mittel, wie sie die europäische Malerei seit Poussin entwickelt hat. Sinngemäß schaltet der Begriff Komposition aus, wodurch die Antithese Abstrakt oder Gegenständlich insofern illusorisch geworden ist, als überhaupt nur noch die Bildrealität besteht – als Ergebnis der letzten 40 Jahre, an dem nichts zu rütteln ist.

Den rein intuitiven Bildformen tritt also nun das Bewußtsein entgegen, das aus der Erkenntnis Gewonnene. Die Erkenntnis aber ist dergestalt fähig, daß sie das Intuitive bis zum höchstmöglichen Maße ins Bewußte erhebt ohne Angst vor der Gefahr, es zu verlieren.

Die Erkenntnis ist aber auch genährt von der Vorstellung, daß die höchstmögliche Anwendung der bildformenden Mittel mit die größte Wahrscheinlichkeit bietet, ein umfassendes Bild des – sagen wir – ›Universums‹ zu schaffen. Die Identität der bildformenden Mittel mit der organischen Form – diese Identität kristallisiert sich in der Intuition – ist die Grundlage, die ein Abrutschen ins Intellektuelle oder Äußerliche verhindert. Ich selbst sehe die Möglichkeit einer derartigen Gestaltung nur in dem aus der absoluten Farbe gewonnenen Bild. Die absolute Farbe muß vier Dimensionen bewältigen, Höhe – Breite – Tiefe (Relief) und den Zeitraum. Die Stimulantien der Reform, wie sie die Malerei in den letzten 40 Jahren entwickelt hat, erweitern sich zum (Eidos), die Reform zum Urbild – zum Bild schlechthin, d.h. zum organischen Bild, das in sich geschlossen das geistige Substrat des Weltbildes ist.

Die ganze Welt zeigt eine Stagnation. Es ist, als schritte der Mensch einige Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen. Ich selbst habe für diesen Anlauf die Jahre von 1930-1943 nötig gehabt und diese Zeit war die Zeit meines ›Experimentierens‹ schlechthin. Keine Bilder von 1930-1935 würden in einer ›abstrakten Gruppe‹ heutzutage sinnvoll sein. Mir geht es aber um etwas anderes, wie ich Ihnen klarzulegen suchte. Die Grundformen. Punkt, Strich, Linie, Fläche, Koloristik genügen nicht mehr.

Um dieses Anlautes willen, den ich jedem Künstler – besonders den Jüngeren – zugestehe, bitte ich um Loyalität, d.h., daß als Basis der Beurteilung zwar die Anlagen zum absoluten Bild nicht aber die Einengung auf einen Stil angesehen werde. Zugleich, wie ich schon sagte, soll man Gewachsenes von Mache unterscheiden.

Was sich nun und ob sich überhaupt etwas aus diesem Zusammenschluß entwickelt, werden wir abwarten. Es ist gut, daß wir uns eine Karenzzeit gesetzt haben. Ich selbst liebe die volle Unabhängigkeit nach allen Seiten und mit allen Konsequenzen, so daß ich ein privates Interesse an der Sache, wie etwa Ackermann, nicht habe – ebenso wenig wie Sie. Das Abenteuer, daß mir jede weiße Leinwand bietet, ist es, wofür ich lebe – nicht einmal das Ergebnis.

Nehmen Sie bitte den etwas schwierigen Versuch, die Kulmination, die die Gegenwart aufweist, auszudeuten, kritisch und freundlich auf […]

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von E.W.Nay