8.6.1949

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Rede zur Eröffnung der Ausstellung ›Nay‹
Frankfurter Kunstkabinett Hanna Bekker vom Rath
Frankfurt a. M., 8. Juni – Mitte Juli 1949

Ich las den Gedanken, daß der eigentliche Grund der europäischen Krise darin zu suchen sei, daß die Fähigkeit des Europäers, im Denken als einem Gestaltungsakt die Gegenwart zu leben, hinter den weltgeschichtlich bedingten Gegebenheiten zurückbliebe (Heidegger über den Humanismus). Diese Gegebenheiten sind mit den beiden Begriffen Technik und Arbeitsleistung als Rechtfertigung des Lebens umrissen. Es können uns große Meister der Gegenwart davon überzeugen, daß die Kunst wenigstens die Folge dieser Gegebenheiten, die innere Heimatlosigkeit des säkularisierten Menschen und die Möglichkeit der Umkehr in die Zeit erweist. Denn was das Denken nicht vermag, das ahnende Gestalten scheint es zu vermögen. Ich stelle folgendes fest:

Es geht in der Bildnerei nicht um das Magische, nicht um das Mystische, nicht um das Mythische, nicht um Philosophie oder gar Psychologie. Es geht nicht mit der absoluten Intuition, sondern mit der klaren und ursprünglichen Bewußtheit es Europäers. Außerdem handelt es sich bei dieser Feststellung um das Bild, und von der Bildgestalt wird im allgemeinen nie gesprochen oder nur in dem oberflächlichen Sinne, daß alles, was Bildgestalt ist, doch nur dazu diene, irgendetwas auszusagen, auszudrücken, Vorstellungen, Gefühle etwa. Doch die Bildgestaltung ist das Bild selbst, und es bedarf also keiner Interpretation außerbildnerischer Art, um ein Bild einzusehen. Um über das gegenwärtige Bild zu sprechen, will ich kurz daran erinnern, daß mit dem Impressionismus in Frankreich das perspektivische Raumbild der Renaissance vom zweidimensionalen Flächenbild abgelöst wurde. Die Pinselschrift des Impressionismus ist also das Mittel der reinen Zweidimensionalität der Bildfläche. Cézanne entdeckte die Dreidimensionalität des Bildes, die nicht mit perspektivischen Mitteln, sondern mit nur dem Bilde angehörenden Reliefs und Plänen aperspektivisch-autonomen Bildraum gewinnt, nicht wie das perspektivische Bild haptisch, das heißt greifbar, sondern optisch, das heißt wahrnehmbar ist. Die zweidimensionale Fläche ist dreidimensionale Wand geworden und der Künstler gestaltet, indem er die Wand im Sinne der Wand verletzt, die Tiefe, also die dritte Dimension, auf der zweidimensionalen Fläche mit Relief und Plänen so aussagt, daß die Fläche nicht zerstört wird. Von Cézanne aus beginnt der formgestaltende Weg der modernen Malerei, während Gauguin diejenige Linie einleitet, in der es nicht um die Verwirklichung der absoluten Bildgestalt geht. Gauguin ersetzte die dritte Dimension seiner wunderschönen, zweidimensionalen Malerei, durch Dekoratives, Literarisches, Gefühle, und das führt dann weiterhin zum Expressionismus, zum Surrealismus, zur Seelenmalerei, zum Psychogramm. Auf den Erkenntnissen von Cézanne entwickelte Juan Gris das aperspektivische, autonome, dreidimensionale, statische Bild, Klee findet das Zeichen, das das Numinose im Bilde auslöst, und Kandinsky zeigt als Mensch der steinlosen Ebene die Fähigkeit des Menschen zur reinen Intuition auf. Das heißt, zu dem von Cézanne und Gris gefundenen, autonomen Formbild finden Klee und Kandinsky das Menschliche hinzu. Ihnen war es gegeben, das Kosmisch-Unbewußte, das heißt den seelischen, damit raum- und zeitlosen Seinsgrund heraufzubeschwören, zu dessen Vorhandensein der Europäer sich wieder – unterstützt durch die bekannten Untersuchungen auf psychischem Gebiet – bekennt.

Dies sind die Grundlagen und Ausgangspunkte, auf denen die Generation nach 1900 eine weitere, die Bildgestalt bewußt formende Entwicklungsstufe hinzufügt.

Das Zeichen, die bildnerische Formel, in der sich das Kosmisch-Unbewußte in unserer Zeit aussagt, ist das Zeichen für Unendlich, die Acht, ein Zeichen, für dessen Vorhandensein Physik und Technik der Gegenwart Beispiele liefern, der Segelflug etwa. Es ist ein Zeichen des Dynamischen, der Welle, die in sich zurückläuft, und enthält die beiden Grundtendenzen der Zeit, Dynamik und Ganzheit, von deren Vorhandensein uns die furchtbaren Entstellungen, die diese Grundformen im öffentlichen Leben annahmen, schmerzlich überzeugen können.

Die bildnerische Gestaltungsform aus diesem Zeichen lautet folgendermaßen: es ist das aperspektivische, autonome, vierdimensionale Bild.

Aperspektivisch, denn es ist optisch, nicht haptisch.

Autonom, denn es besteht aus Funktionen und Relationen von Formen, die nur in sich selbst und für die Bildfläche Beziehungen haben.

Vierdimensional, denn es ist nicht nur Fläche, sondern Wand und bezieht den Zeitraum, den zeitlichen, nebeneinander zu lesenden Ablauf von Formen im Sinne der Wand fugal ein.

Ich habe Ihnen also gesagt, daß das Bild als Zeichen des Seins nicht des bewußten Gestaltungsaktes entraten kann. Damit habe ich gesagt, daß das Bild der Planung und Ordnung bedarf, damit die Beziehungen und Funktionen der Formen im Bilde ein Ganzes im kontinuierlichen Miteinander ergeben. Diese Kontinuität erweist, daß das Bild nicht nur Registrator gegenwärtigen Lebens ist, sondern Mittäter. Die besondere Stellung des Gegenstandes in diesem Bilde möchte ich Ihnen andeuten, wohlgemerkt des Wesens des Gegenstandes als seiner Wirklichkeit, nicht seiner optischen Erscheinungsform.

Nicht etwa verwandelt sich durch die Erfindung der Gegenstand zur Bildgestalt, der Gegenstand ist vielmehr der Stoff, die Substanz, die die Bildzeichen abgibt, die als Elemente der Bildgestalt dienen. Mit Hilfe dieser Elemente wird das eigentliche absolute, formende Bildthema gefunden, das Gestaltungsthema, das Formprinzip. Die Eingestimmtheit des Gestaltungsthemas mit den Elementen, die der Gegenstand abgab, ruft das Lebendige hervor, indem die Bindung zur körperlichen Substanz wie zur geistigen Formgestalt gleichermaßen auf diese Weise hergestellt ist. Das Malen eines Bildes ist ein umfassendes Abenteuer, der Maler verwirklicht keine Vorstellung, sondern er verwirklicht das Bild, das seine Direktive aus den Formelementen ableitet, die dem Wesen des Gegenstandes als seiner Wirklichkeit entspringen.

Er geht also nicht vom Gegenstand aus, sondern von den Formelementen, die der Gegenstand stimuliert, er kehrt in das absolute, autonome Formbild ein und findet das Bild als Ereignis, in dem sich die Synthese des raum- und zeitlosen Seinsgrundes mit der Substanz vollzieht.

Für dieses vierdimensionale Bild ist also der Gegenstand Wegweiser für das Formen, der mit seiner substantiellen Kraft Raum und Dynamik, damit die gesamte Gestaltung des Bildes bindet.

Aus der um keinen Preis unbewußten aber keineswegs intellektuellen, sondern überwachenden Gestaltung dieses Bildes wird der raum- und zeitlose Seinsgrund in seiner Ursprünglichkeit sichtbar. Aus der in überwacher Bewußtheit gestalteten dreidimensionalen und dynamischen, damit also vierdimensionalen Formgestalt entsteht das Bild, dem ich mit meinem Talent und meinen Bemühungen diene.

Über den Autor

von E.W.Nay