Aufzeichnung um 1946/47
Der Künstler ist nicht berufen, der Allgemeinheit einführende Erklärungen über seine Kunst oder über seine Auffassung über die Kunst abzugeben. Dazu sind andere da.
Wenn er spricht, so kann er nur auf der Höhe seines Werkes sprechen und setzt somit vieles voraus, wovon nur der Eingeweihte weiß.
Es ist also dem Künstler aus seinem Wesen heraus unmöglich, sich allgemein verständlich zu machen. Die Schwierigkeiten, die dem Künstler aus seiner Zeit heraus erwachsen, sind wesenhafte. Er hat die Brücken des Verständnisses nicht zu bauen, er hat nicht um Verständnis zu bitten, er kann nur versuchen auszusagen – ohne jede Tendenz oder Absicht.
Goya: »Je ne vois que des plans qui avancent et des plans qui culent, des reliefs et des enfoncements.«
Das eigentliche Problem der Malerei ist das Problem des Raumes. Die Fläche hat zwei Dimensionen, die dritte, die Tiefe, muß mit besonderen Mitteln so gestaltet werden, daß die Fläche nicht durchbrochen wird. Cézanne hat aus den alten Meistern, vor allem aus Poussin, das Prinzip herausentwickelt, mit dem sie diese dritte Dimension gestalteten. Es ist das Relief, verbunden mit den Plänen.
Das Relief ist eine Äußerungsform des Kubischen und wird so entwickelt, daß konkave und konvexe Formen einander ablösen, wobei die Farbe der konkaven Form, ebenso wie die Farbe der konvexen Form, als Farbflächen die Flächen der Tafel, auf der die Malerei stattfindet, nicht durchbrechen dürfen. Die Fläche als solche muß erhalten bleiben. Es wird also flach, zweidimensional gemalt. Jede Farbe hat vollen vordergründigen, auf der Malfläche vorn, oben anstehenden Wert. Der Wechsel der konkaven und konvexen Form wird nicht durch helle gegen dunkle Farben, sondern durch kalte gegen warme entwickelt.
Zugleich müssen die Pläne der Farbe ordnend einwirken. Die vorerst zweidimensionale Setzung der Farbe gruppiert sich zu Farbkreisen, indem z.B. ein Gelb ein weiteres Gelb zu sich heranzieht und ein aus differenzierten Gelbs entstehender Komplex sich ausbreitet. Dieser Komplex wird eine bestimmte Funktion des Bildes tragen, er wird zu anderen Komplexen – Grün, Blau oder Rot oder anderen – in Kontrastbeziehungen stehen, in bestimmter komplementärer Beziehung. Die mit solchen Farbkomplexen konstatierten Raumdefinitionen werden so miteinander verwoben, daß Durchdringungen, Farbrhythmen, fugale Farbbänder entstehen, ausgehend und gruppiert um einen Kontrapunkt. Diese Plandurchdringungen und Definitionen müssen sich wiederum mit dem Relief aus konkaven und konvexen Formen verbinden. Indem nun die Höhe der einen eine gleiche Tiefe der anderen Formseite des Reliefs, konkav gegen konvex, erzeugt, ergibt sich die Spannung des Bildraumes. Dies ist die Gestaltung des Bildraumes, die Bewältigung der drei Dimensionen durch die Farbe.
Die Raumzeit ist eine neue, vierte Dimension. Sie bezweckt durch das Simultane – die gleichzeitige Sichtbarmachung nicht gleichzeitig sichtbarer Formen – eine intensivere Verknüpfung der Flächenordnung, die durch die Farbkreise entsteht, mit der kubischen Ordnung, die durch das Relief gestaltet ist. Diese umfassendste Gestaltungsform des Bildes wird sich nur dort vorfinden, wo die Farbe das gestaltende Mittel ist.
Die andere Gestaltungsform ist die der Struktur; bei der die Farbe nur begleitenden Charakter hat, nicht Formen entwickelt, sondern andeutet. Die Farbe wird dann auch in der Bewältigung des Kubischen nur Abschattierungen vorführen. Dann werden auch Mittel der Komposition angewandt, die Perspektive und ihre Aufhebung, die Diagonale, die Vertikale und anderes. Doch ist dies alles, im Gegensatz zur farbigen Gestaltung, Komposition. In dieser Strukturgestaltung übernehmen also die zeichnerischen Mittel die Bildformung.
Völlig verändert ist die geistig-seelische Struktur des Menschen. Der Begriff für die gegenwärtige Situation des Menschen ist am besten durch Max Picards[1] Wort ›Diskontinuität‹ definiert. Diese Zusammenhanglosigkeit ist von den Künstlern erkannt worden, und entweder wurde der Versuch gemacht, gestaltend zu formen, d.h. sich um Zusammenhang zu bemühen, oder sie zu manifestieren und dokumentieren. Man hat dabei zuweilen die Gesetze der Malerei verlassen, man hat Konstruktionen einerseits oder Darstellungen neugeformter Gegenstände unternommen. Die Grenzen wurden damit erweitert, die Grenzen menschlicher Vorstellungen, nicht aber die der Gestaltung.
Nur kurz sei dies angedeutet, da es denen, die sich um die Kunst der Gegenwart bemühen, bekannt ist, wie es auch bekannt ist, daß diese Unternehmungen als abgeschlossen anzusehen sind. Wenn man, kurz erläuternd, an Namen die Situation skizzieren wollte, wäre etwa mit Braque, Gris, Picasso die eine Seite, mit Max Ernst, Dali und Konstruktivisten wie Moholy-Nagy die andere Seite dieser Periode umrissen.
Was geschieht nun? Wie ist es möglich, die als grundlegende Gesetze der Malerei erkannten Formprinzipien zu einem neuen, aus der Farbe gebauten Bilde zu verwenden? Erkannt ist nunmehr; daß es ohne diese Gesetzmäßigkeiten nicht geht, denn sie sind nicht erfundene, sondern der physischen wie geistigen Natur des Menschen analoge Gesetze, sie sind kosmische Gesetze. Die Primitivierung, die Zurückführung dieser Gesetze auf Fläche und Linie, ist als ungenügend erkannt. Mithin also muß das organische Bild entstehen, zwangsläufig aus der Folge der künstlerischen, geistigen Unternehmungen heraus. Bedacht werden mag dabei, daß die Kunst mit Begriffen wie Tradition und Fortschritt freier als andere Gebiete des menschlichen Geistes umgeht.
Der äußere Einfall, gesehen oder erlebt, ist Stimulans der Formung. Diese Stimulans bewirkt, daß das Bild der absoluten Formung in sich geschlossene, lebendige Wirklichkeit, nicht Reflexion enthält. Diese Wirklichkeit verbindet sich mit der reinen Formwirklichkeit des Bildes, die autonome Wirklichkeit ist. Der Schnittpunkt der aus dem Stimulans gewonnenen organischen Form, die geradezu kosmische Kraft enthält, mit den die organische Form in sich enthaltenden Gesetzmäßigkeiten, die, wie schon gesagt, ebenfalls Analogien zur Welteinheit, zum Kosmos enthalten – dieser Schnittpunkt ermöglicht es, auf der Grundlage der Diskontinuität, wie sie das Wesen des heutigen Menschen ausmacht, die Synthese, d.h. die Überwindung der Diskontinuität, zu schaffen.
[1] Max Picard (1888-1965), Schriftsteller und Kulturkritiker. In seinen Büchern versucht er, die Menschen auf das Wesenhaft-Unvergängliche zurückzuführen.