30.10.1939

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Aufzeichnung vom 30.10.1939

Grund und Ziel der Malerei

Unterbewußt beginnend entstehen Bilder. Der junge Mensch malt, nichts wissend und nichts ahnend und, wenn er begabt ist, entstehen die schönsten Frühwerke. Eines Tages meldet sich die naturgegebene Krise der Bewußtwerdung, die Erkenntnis, der Künstler sei, oder überhaupt erst mal, daß der Künstler ist, der Künstler sei der Bewußte, um das Umfassende des Lebens Wissende. Und der zieht aus, das Gruseln zu lernen.

Das Warum der Kunst führt zu Meditationen, zu Grübeleien über den Grund der Kunst. Noch ist die Malerei als solche nicht bewußt. Der Gehalt, der Sinn muß erworben werden. Daß hinter dem Ich, durch es hindurch, eine Bindung vorhanden sei, begreift er. Passiv, das Ich und die Malerei, d.h. die bewußte Gestaltung hintansetzend, führt der Weg zur Religion, Rückbindung vorerst in den Begriff der mystischen Versenkung. Zu spüren, wo das sei, was man gemeinhin Gott nennt, was er nicht mehr so nennen kann, so allgemein, sondern das wieder neu ausgesagt werden muß. Nach langem Herumwandern finden sich Ansatzpunkte, das Kernproblem wird sichtbar, die mythische Gebundenheit, d.h. das Wissen um das Zusammenklingen der Urelemente, aus denen der Mensch lebt. Und so meldet sich die Aktivität, die Gestaltung. Die mütterliche Welt der Urbewegung wird zur geistigen, väterlichen, männlichen Aktivität. Die Malerei beginnt bewußt zu werden. Aus dem Wissen um den Kreislauf, in den der Mensch geboren ist, den er entwickeln muß, der ihn trägt und den er darstellt, entstehen die Urelemente der Malerei. In der Typisierung der Urelemente des Bildes, der Mensch, der Raum, die Landschaft, entstehen hieroglyphe Formen, Bänder von Formen und Farben, die vorerst in einfachster Weise Klarheit schaffen. Dies wird weiterentwickelt, die Farbe gewinnt die Hauptkraft, denn nun ist die Farbe nicht mehr frei in der Luft, sondern dem Gesamtheitsrhythmus des Lebens eingeordnet. Es entstehen Zusammenfassungen farbiger Komplexe, Verbindungen, Beziehungen von Form zu Form, gehalten durch die Grundtendenz des Gehaltes der mythischen Bindung. Das Bild der neuen Wirklichkeit entsteht. Denn alles Wollen des Menschen will Wirklichkeit werden. So das Bild des Kosmos, so das Bild des Menschen, das nun auch entstehen kann, denn das Urbild ist ahnend vorhanden. –

Die mythische Bindung ist das Bewußtsein des Kreislaufes, in dem der Mensch Erde, Gott und Mensch wird. Gott ist kein Pol außer ihm, in ewigem Rhythmus und Wechsel ist der Mensch Gott, Mensch, Erde. Christus ist eine der vielen Inkarnationen des Urmenschen, des Menschen der mythischen Gebundenheit. Die Welt hat mehrere erlebt. Dieses Urbild – Christus – ist von den Kirchen zerstört, aber nicht erledigt worden. Erst eine große Ausräumung wird die Urgestalt wieder zu Tage fördern, die so lebenszugewandt ist, wie nur je ein Mensch der Wirklichkeit. –

Man muß anerkennen, daß Farbe ein Mysterium ist, daß ein Dogma das Mysterium tötet, daß also eine Harmonielehre der Farbe ein Unding ist. Und doch muß der Mensch Gesetze bauen für das Bild, Gesetze, die analog der Natur sein müssen, so gut es in seinen Kräften steht. Das Mysterium der Farbe heißt Geist, Blut (was dasselbe ist), sie muß also entmaterialisiert werden zur künstlerischen Wirklichkeit, in der Farbe und Gehalt durch das Mittel des Inhaltes, des Motivs, der Vision, eins wird im Ziele auf die Wirklichkeit der mythischen Dynamik.

Über den Autor

von E.W.Nay