Entwurf für ein Vorwort zum Katalog der Ausstellung
›Ernst Wilhelm Nay‹, Galerie im Erker, St. Gallen
25. November 1967 – 31. Januar 1968
Nach der Liberation des bildnerischen Prozesses, vorgeführt von Mondrian, Klee und Kandinsky – dies ist die Tat der ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts – sind die meisten Künstler ins 19. Jahrhundert zurückgekehrt. Sie wandten sich wieder dem Gegenstand als Hauptstück des Bildes (pop) oder, gemäß der physikalischen Untersuchung der Retina, dem physikalischen Augenerlebnis des Universums zu. Goethe, Helmholtz, Bergson stehen zur Seite, aber nicht Einstein, Planck, de Broglie, Weizsäcker und Heisenberg. So ist diese Rückkehr zur physikalischen Realität des Dings und des Sehens für die Kunst als eine Pause nach jener Epoche der Liberation und als ein Rückschritt anzusehen.
Der Fortschritt läuft unter anderen Aspekten. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, schon angebrochen, wird schließlich die zweite Liberation vorführen, die Liberation von allem, was Universum und prästabilierte Harmonie geheißen hat und auch Voraussetzung der Erfindungen des 19. Jahrhunderts war.
Erst wenn, so könnte man sagen, die Kenntnis des Atomkerns einmal gelungen ist, könnte man wieder von einem universalen Vorgang sprechen, der übersehbar ist. Vorläufig wissen wir über unser Planetensystem, über dies eine Universum, das mit diesem Planetensystem ausgefüllt ist, soviel, daß wir andere Universen annehmen müssen. Damit ist die Umwelt des Menschen, die Universale, die den Menschen und das Universum umfaßt, relativ. Und wenn auch jene physikalischen Gesetze des Lichtes und der Farbe erfunden und festgelegt sind, so umfassen sie nur die bisherigen Vorstellungen vom Universum, nicht aber das nunmehr wissenschaftlich Erkannte, das nicht anschaubar ist.
Universum, seit Plato eine Ballung prästabilierter Harmonie, von Aristoteles durch ein mathematisches System anschaubar gemacht, im Ganzen von der Gradaufsichtigkeit der Ägypter bis zur Perspektive anschaubar gemacht für das Gebiet der faktischen Anschauung, als letztes schließlich Licht und Farbe als Anschaubarkeit des Universums. Dieses Universum aber ist für den Menschen von heute im Ganzen als anschaubar verschwunden. So leben wir nicht mehr im Zeitalter der Technik, sondern man müßte konsequenterweise sagen, im Zeitalter der gebauten Wissenschaft und der Mensch, sich der Unanschaubarkeit gegenüber befindend, muß auf anderen Wegen die Anschaubarkeit wieder herstellen.
Der Computer arbeitet umgekehrt wie das menschliche Gehirn. Das Gehirn nimmt in jedem Moment unzählige Daten auf, ist aber nur imstande, sehr wenige davon als Information herauszugeben. Der Computer ist mit sehr viel weniger Daten gespeist als das menschliche Gehirn, gibt aber im Vergleich zur Zahl dieser Daten sehr viel mehr Informationen heraus. Nun sagen die Neurologen, daß das menschliche Gehirn, angeregt durch diese Mehrausgabe von Informationen des Computers, voraussichtlich sich entwickeln wird, mehr Informationen herauszugeben, indem sich mehr Nervenzellen zu den bisherigen Nervenzellen hinzufügen. Das wäre eine echte Mutation.
Es scheint ohne Zweifel, daß Künstler als erste die bisherige Grenze der Information überschreiten und besonders diejenigen, die durch die Anschauung sprechen. Die Angst vor dieser zu erwartenden Erweiterung der geformten Anschauung hat vorerst das Show-Bild, das ungeformte Bild der vorhandenen Dinge hervorgerufen. Und ebenso wurde das alte Rezept der Funktion der Retina wieder neu belebt und brachte eine Erweiterung der optischen Anschauung. Alles dies aber blieb im Rahmen der früheren, bis zum Ende des 19. Jahrhundert geltenden Vorstellung vom Universum. Dies ist eine Wiederholung, oder darin liegt zugleich eine Wiederholung der Abwehr der Ideale und Ideen der Humanität, der Logik und Perspektive und der Kausalität. Aber die Abkehr von jenen frustierten Idealen ist längst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch jene oben genannten drei Meister, Mondrian, Klee, Kandinsky, vollzogen.
Was jetzt zu tun ist, muß der bindungslose Mensch für sich selbst, ohne das Heil einer prästabilierten Harmonie des Universums, allein und sich selbst gegenüber, wie Heisenberg formulierte, hervorbringen. Es ist also nur konsequent, daß der Künstler sich seine Mittel selbst erfindet, sich ihrer Artistik bedient und sie so lange manipuliert, bis sie etwas vom Menschen aussagen, aber von jenem Menschen, der aller Bindungen entledigt ist. In diesem letzten Gedanken liegt die neue Objektivität.
Diesen Menschen als Physis zur Anschauung zu bringen, jenseits der Harmonie des Universums, der dazugehörigen Geometrie, der medizinisch-klinischen Feststellung, dazu bedarf es vor allem der Überlegung, daß der Gegenwartssinn als der »faktische jeder Dialektik entkleidete Materialismus unserer Gesellschaft« (zitiert nach Rüdiger Altmann) anzusprechen ist.
Ein unperspektivisches, alogisch als Fläche geformtes Bild, ohne kausale Reflexionen, dessen Dialektik sich selbst wieder aufhebt, könnte eine Aussage über die Physis und die Mentalität eines Menschen von heute machen.