Januar 1965

J

Beitrag zum Katalog der Ausstellung ›E. W. Nay – Gemälde 1955-1964‹
Frankfurter Kunstverein Steinernes Haus, Frankfurt
9. Januar – 14 Februar 1965

Über das Gegenbild

Die heutigen westdeutschen poetisch befähigten Schriftsteller beschäftigen sich außer mit Gedicht, Roman und Erzählung nur mit der Tagesgegenwart, während die Grundprobleme unserer Zeit in unserem Lande nicht über die wissenschaftliche Umzäunung hinauskommen, also nicht extrapoliert werden, wie es seit dem Kriegsende in allen Kulturländern der Fall ist.

Extrapolation ist die Erweiterung der fachlich erfaßten wissenschaftlichen Ereignisse unsere Zeit in den Lebens- und Zeitraum der Gegenwart, um die Folgen der Veränderung zu erkennen und die Wirkungen zu ahnen.

Im Sinne einer solchen Extrapolation sind die folgenden beiden Variationen über ein gleiches Thema zu verstehen.

I.

Eine klassische Kunst bezieht sich auf eine Konvention, eine romantische Kunst bezieht sich auf sich und steht im Gegensatz. Die Kunst unserer Zeit ist abstrakt. Eine abstrakte Kunst erfindet ihre Zeichensprache für sich selbst, jeder Künstler für sich selbst, sie ist also manieristisch. Eine romantische und manieristische Kunst steht im Gegenbildverhältnis, in einem Verhältnis des Parallelen zur Welt. Und was ist Welt heute? Eine Vielfalt, ein Universum lebendiger Impulse der verschiedensten Art. Im Ganzen gesehen aber ist der heutige Stand der Dinge des Menschen gekennzeichnet durch eine neue Stufe der technischen Welt, die Stufe der Kybernetik und Elektronik, der Atomzertrümmerung und Raumforschung. Dieses sind die formenden Gründe heute. Alles Bisherige verwandelt sich. Nicht nötig, daß jeder davon weiß: dem einen wird diese radikale Veränderung zur Angst, zur Psychose, andere verkriechen sich. Der Künstler geht an die vordere Grenze und fordert das Gegenbild heraus, das Gegenbild aus den gleichen Vorgängen, die geschehen. Das Gegenbild ist nicht der harmonikale Platz der Beruhigung, das stille Haus am Waldesrand mit Vogelgezwitscher.

Das Bild, das ich seit 1955 male, ist ein Bild, in dem die Impulse durch Takte, Rhythmen, Gewichte und Kürzel zu einem Bildsystem werden, das der Künstler in ein irrationales Zauberspiel verwandelt. In dieser Verwandlung sondert sich die Intellektualität, das rationale Element, aus und versinkt ins Bild. Nur Wenigen noch aus dem Bild erfahrbar, gehört es dennoch intensiv dazu. War es doch vorerst das rationale System, das als Trampolin den Absprung zum Bild ermöglichte.

Das Gegenbild also ist Bild vom Stoff der neuen Stufe der Technik und verwandelt sich vom Funktionellen des Stofflichen, der Kombinatorik von Impulsen aus Zahl, Gewicht und Kürzel zum Zauberbild und macht sichtbar Drohung der Zeit und Bannung.

Absichtlich kann das niemand, der Künstler handelt in der brennenden Verbindung von Bewußtsein und Trance.

Ein Zurück gibt es nie, noch immer folgte dem Zurück ein infernalisches Desaster.

II.

1. Das Bild

Das klassische Bild folgt der Konvention, das moderne Bild, das das abstrakte Bild ist, folgt sich selbst, ist somit romantisch und, da es sich die Formensprache selbst erfindet, manieristisch. Das romantisch-manieristische Bild hat die Tendenz, in einem parallelen Verhältnis zur wissenschaftlichen Welt zu stehen. Parallel heißt, daß das Bild nicht darstellt und nicht illustriert, was die wissenschaftliche Welt erfindet. Das Bild ist Zauberbild aus anderen Impulsen und doch aus den gleichen Fakten und Vorstellungen, die unsere Welt heute bestimmen.

2. Vorstellungen der Gegenwart

Der Mensch: Atavismus und Bewußtheit

Die Unterscheidung von Geist und Natur wandelt sich zur Gleichsetzung von Geist und dem, was die Naturwissenschaften als Natur erkennen. Der Mensch versteht sich als Teil des naturwissenschaftlich erkennbaren Universums und zugleich als geistiger Mensch.

Also:

Das idealistische Denken trennt Geist und Natur.

Das materialistische Denken setzt Intellekt und Natur gleich. Sondern es handelt sich um ein Denken, das Geist und naturwissenschaftliche Erkenntnis verbindet.

Über den Autor

von E.W.Nay