14.5.1964

1

Beitrag zum Katalog der Ausstellung
›E. W. Nay – Aquarelle von 1963 und 1964‹
Galerie Günther Franke, München, 31. Juli – 29. August 1964

Die Kunst macht nicht sichtbar, die Kunst ist sichtbar. Aber die Kunst, nicht die Materie. Die Materie verwandelt sich in der Hand des Künstlers zur materiefreien Materie, sie ist schon auf dem Wege, anderes zu sein als Materie, wenn der Prozeß beginnt. Materie als Materie sichtbar machen, das ist materiell, Materie als materielle Materie auszulöschen und hinüber zu gehen zur Amalgamierung mit dem Menschen, ist der erste Prozeß der Kunst. Der andere Prozeß, durch den diese erste Verwandlung sichtbar wird, ist das artistische System. Das artistische System als es selbst ist esoterisch, treibt es sich aus, so treten die Tiefen des artistischen Systems zutage, die magischen Bindungen, die den autonomen Menschen, der die absolute Kunst sein notwendiges Eigenes nennt, in die Sichtbarkeit seiner ganzheitlichen Existenz erheben. Alte Kulturen zeigen Werke, die zu Kultzwecken dienten und von den Menschen der damaligen Zeit nicht als Kunst verstanden wurden. Dahin zurück gibt es keinen Weg. Kunst als Naturdarstellung, dahin zurück gibt es ebenfalls keinen Weg, Kunst als Ausdeutung der Natur, der Psyche, der Vitalität, dahin zurück gibt es ebenfalls keinen Weg. Kunst als Sichtbarmachen, auch das ist nur der letzte Schein jener dogmatischen platonisch-aristotelischen Ideen, die Europa in den Hauptlinien geschaffen hatten, die heute sich auflösen.

Kunst ist sichtbar – als Kunst in Identifikation mit der Aussage, als absolute Kunst, also absolutes Formen und Gestalten in die Verwandlung der Materie hinein – in Identifikation mit sich selbst, mit der von selbst in ihr emanierenden Aussage. Von selbst emaniert das autonome artistische System meiner Kunst tiefgründige Zeichen, den Kreis, das Auge und andere, es verbindet sich darin die Größe des autonomen Menschen mit der Größe des Universums, die Kleinheit des autonomen Menschen mit der Kleinheit des Universums.

Mit Recht wurde oft darauf hingewiesen, daß eine nicht-akademische Kunst (akademische Kunst trennt Inhalt von Form), daß eine nicht-akademische Kunst – im Allgemeinen als romantische Kunst bezeichnet – in Affinität zur oder besser in einer Parallelität zur Wissenschaft sich befindet. Dabei geht die Tendenz nicht zur Verwissenschaftlichung der Kunst, sondern zum Ganzheitlichen.

Die erste Welle der nicht-akademischen, der nicht-platonisch-aristotelisch gesetzten Kunst, wie sie mit der Jahrhundertwende aufkam, ist vorüber. Die Umwelt sieht sich Rückschritten und Auswegen gegenüber – aber die zweite Welle beginnt.

Die Rückschritte und Auswege führen zurück in den Gegenstand, zurück in die analysierende Aussage, zurück in die psychische Aussage, zurück in die Materie, den Illusionismus. All das geschieht aus Angst vor der seit Plato als Hybris verstandenen Autonomie des Menschen. In den ahnungsvoll auftauchenden neuen Dimensionen, in der neuen Identifikation, in der autonomes Bewußtsein und magisches Einsinken sich verbinden, erscheint Ganzheit, in der Wissenschaft intellektuell entdeckt, in der Kunst zauberisch erlebt.

Über den Autor

von E.W.Nay