März 1962

M

Entwurf eines Vorwortes für den Katalog
der Ausstellung ›E. W. Nay – 60 Jahre‹
Museum Folkwang, Essen, 15. September – 21. Oktober 1962

Nicht weil ich sechzig geworden bin, sondern weil wir, ich und alle meine deutschen Zeitgenossen vor 17 Jahren ihr Gesicht verloren haben, schreibe ich selbst. Haben sie es wieder? Erst holten sie nach, dann holten sie wirtschaftlich ein und auf, aber geistig? Die Maler also holten nach und jetzt stehen sie an einer Straßenkreuzung ohne Wegweiser. Einige andere Zeitgenossen bieten abgelegte Kleider an, als ganz, ganz neue Kleider, als die neuesten. Nun ist also der Tachismus tot, die Seelenmalerei ging in Orgien der Leinwand unter. Was war sie? Wer hat sie initiiert? War es etwa Sigmund Freud? Natürlich war er’s! – Jetzt, wo ich’s sage, wußte es jeder schon lange. Und nun also die Natur!! Die alte liebe Natur, die Natur, die uns Goethe und vor allem Novalis, mythisiert hatten. Für alle Zeit! Wirklich für alle Zeit? Wer sagt, daß es einen deutschen Novalis-Naturmythos geben muß? Müssen sich die Deutschen denn wirklich immer mythisieren? Ich Mythos nicht tot? Er ist’s. Also Natur! Was ich sehe, ist das Natur? Das ist Materie. Und was ist Materie? x = mc2, das ist Materie nach der berühmten Einsteinformel. Materie = Masse mal Lichtgeschwindigkeit [hoch] 2.

Also zu Freud, Einstein. Wie aber? Entmythisierte Natur ist Materie. Materie ist nichts. Aber die Relation ist eine Möglichkeit, dazwischen zu greifen. Denn die Relation der Materie ist Raum. Natur ist durch Raum zu erfahren. Durchfahre Raum, unbekannten Raum, und du erfährst Natur. Vexierspiel der Seele gibt nicht Natur, sondern Mixtur aus Sentiment und Materie. Das ist nichts.

Die Vorgänger unserer Zeit also sind Freud und Einstein. Der eine entdeckte das Unbewußte, der andere die Natur in unserer Zeit. Die Kunst hat das Unbewußte so verzweigt durchlaufen, daß es nun da ist. Nicht aber da ist in der Kunst die Natur. Ebensowenig wie Seele eine Konstante ist, ist es Natur. Nach der Herkunft beider fragen bringt nichts voran für die Kunst. Das wäre die einfachste Lösung, an deren Nichtzustandekommen niemand schuld ist.

Also noch einmal Natur! Wir erfahren heute Natur durch Raum. Natürlich ist auch ein Veilchen Natur, aber wir sagen zwar, es steht eben in der Erde, aber was ist das? Diese Frage ist, weil unbeantwortet, neu gestellt. Der Zufall wollte es vor 31 Jahren, daß ich mit einem Mathematiker im Fahrstuhl fuhr und ihn fragte: Was macht der Fahrstuhl im Ganzen gesehen? Welchen Weg beschreibt er? […]

Das also ist ein Blick in [den] Raum heute. Nun die Kunst.

Das Bild emaniert eine der vielen Empfindungen, die instinktiv aufgenommen werden. Das tut das schlechte Bild so gut wie das gute. Wenn wir aber eben nicht nur unser Jammertal beweinen wollen oder beweinen, daß wir unser verlorenes Gesicht noch nicht wieder haben, und nicht eben durch Alkohol und Luxus uns darüber hinwegtäuschen wollen oder durch andere Verfälschungen, bleibt die Frage an uns selbst, wo sind wir im Ganzen, wer sind wir im Ganzen? Und das Bild kann, so es gut ist, diese Frage durch den Anblick instinktiv beantworten. Das Bild also emaniert Empfindungen. Kein Bild aber kann sich nun in nichts als Gefühl auflösen. Kein Bild. Das Gefühl kommt ja von Fläche, Formen und Farben. Das ist das Mythische. Aber wenn es nicht das Mythische ist, was ist dann? Dann nimmt dies Mythische die Gestalt der Natur an – Raum.

Bild und Raum, das ist die Frage, das ist die Frage nach Seele und Natur. Die Koloristen sind nicht Maler, die schöne Farben zusammenstellen, die erheitern, sondern sie erheitern, weil nur die Farbe den Raum vorführen kann, der dem Menschen das Gehen ermöglicht. Die Zeichnung kann das nicht. Sie wird immer intellektuell bleiben, die Farbe aber ist Instinkt. Der instinktiv erzeugte Raum ist aber der glaubwürdige. Ja, nur Raum.

Und da ist die Fläche der Leinwand. Der Wissende in der Kunst weiß, daß Illusionsraum der Perspektive nicht gemeint sein kann. Malerei ist immer Fläche. Daß Fläche Raum aussage, ist das eigentliche Geheimnis der Malerei, wenn man, um zu wiederholen, weiß, daß Fläche Fläche bleiben muß, um doch über Raum auszusagen. Dies ist das Geheimnis der Malerei.

Also wir haben hier eine Integration von Fläche und jenem Raum, der Natur bedeutet, also jener Raum, der Natur bedeutet, wird sichtbar durch Fläche. Das gibt der Fläche die Aufgabe, Form zu erfinden. Also die Scheibe. Die Scheibe, die Fläche, die Farbe, der Raum. In jeder Reihenfolge. Mit Form also kommt Natur! Form ist Entfernung von der Seele, nicht wahr? Form ist aber nichts an sich. Form also ist im Hinblick auf Fläche und im Hinblick auf Natur: die Scheibe. Die Scheibe als Fläche und Teil der Fläche und flächenbestimmend – Scheiben als Fläche zueinander als Flächen! – So sagte in New York ein kluger Mann zu mir: Was Sie machen, da diese Hände ineinander drehend zusammenstecken, das ist nicht Cézanne, Cézanne war so, die Hände gerade ineinander gesteckt, Sie sind das: die Hände gedreht durcheinander gesteckt. Das also ist Einstein zu Freud – gemessen an der Kunst.

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von E.W.Nay