Aus einem Brief an Werner Haftmann, Mykonos, 17.9.1959
[…] Wir flogen also von München in vier Stunden nach Athen, sahen dort die Akropolis, die uns scheußlich erschien, aber deren Lage bewundernswert ist, im Nationalmuseum einzig Interesse für die großen Kykladenplastiken. Am nächsten Abend mit Schiff nach Mykonos. Die Inselwelt bezaubernd, Delos besucht, die Stadt dort liegt wunderbar, aber sonst ist dort alles von der Kunst her (bis auf die Löwen) weniger schön. […]So ergibt sich für mich Folgendes: der Weltentwurf, den die Griechen erfanden, ist ihre eigentliche Leistung, sie sind damit die ersten modernen Menschen, also Menschen ohne Religion, das heißt ohne Glauben. Sie brachten diesen Weltentwurf ihrer Stufe gemäß in mythologischen Erzählungen zur Wirkung, die sie wiederum zur Verstärkung mit Pathos umkleideten. Es ist also modern gewesen, sich einen Erzählungenkranz als Auffang für Archetypen der menschlichen Natur – tiefenpsychologisch – zu schaffen und diesen in der Verfremdung des Pathos wirksam zu machen. Die bildende Kunst der Griechen diente dazu, diesen Weltentwurf im Bildnerischen sichtbar zu machen, und das allerdings überzeugt mich als heutigen Menschen gar nicht. Nicht einmal die archaische Kunst! – Denn das ist ja nur rührend zu sehen, wie der Mensch sich selbständig macht, aber ein eigentlich umfassendes Kunstwerk entsteht nicht. So landete das Ganze in Myron’s scheußlichem Diskuswerfer. Die Tempel sind Holzbauten aus Marmor, höchst ungeistig diese Säulen und das Giebeldach, dazu diese Überdimension. »Von stiller Einfalt und edler Größe« ist das alles weit entfernt. Und dann die Vorstellung, das alles war knallweißer Marmor! Die Transparenz des Geistes so zu entwickeln ist schon fast widersinnig.
Aber der Weltentwurf, die Dramen, das ist unglaublich, mir heute in dieser mythologischen Form befremdend. Aber tiefenpsychologisch unerhört empfindsam und gekonnt. Zu der schönen Natürlichkeit der alten Griechen ist ihre Kunst keine Entsprechung. – Wie anders die beiden Kykladenplastiken im Nationalmuseum, […] das ist gar nicht primitiv, das ist Weltentwurf als Kunst.
Dann empfand ich hier recht stark […] das helle ›pneumatische‹ Licht, das eben ganz anders als ›mittelmeerisch‹ ist. So sind hier die Entwürfe spürbar, von denen der vor 4500 Jahren und der um Patmos mich berühren. […]