Aufzeichnung vom 22.10.1956
Anläßlich des Freiburger Bildes entspann sich vor dem Bild und vor dem Mikroskop im selben Raum ein Gespräch mit zwei Naturwissenschaftlern. Verwandlung das Thema. Natur das Thema.
Man belehrte mich, daß die klassische Physik, die Einsteins, Plancks, Heisenbergs, die Natur als eine Verwandlung von Materie in Energie ansah. Man sagte weiter, daß die heutige Physik der Meinung sei, daß der interstellare Raum, den man bisher als leer ansah, erfüllt mit Materie sei, woraus man schließt, daß sich Energie in Materie verwandelt. So ginge schon jetzt Einsteins Prophezeiung in Erfüllung, daß man eines Tages wieder die Natur als Materie erkennen wird.
Der Schluß zur Kunst ist seltsam. Man sah aus meinem Bilde die Betonung der Grundform alles Geschehens der Natur in der Scheibe, dem Kreis vorgeführt, das Zeichen der potentiellen Energie, die nicht nach einer Richtung hin expansiv ist (Kinetik, Funktion), sondern in sich zurückkehrend explosiv ist, in sich selbst in höchster Spannung zugleich. Dies schien den Naturwissenschaftlern im Bild angezeigt zu sein durch die Spannung der Struktur innerhalb vieler Scheiben. Die nicht sichtbar zu machende, also nicht vorstellbare Auffassung von der Natur als eine Verwandlung von Stoff in Energie ist nicht die Auffassung Goethes, der das Universum, All, als ein im Ganzen Spürbares, Sichtbares ansieht, in dem der Mensch teilhabend ist. Die Darstellung dieser Eins-Natur war möglich. Heute ist die Auffassung, daß (auf die Ansicht der Verwandlung von Stoff in Energie folgende) die Meinung vertreten wird, daß die Natur voller Materie sei, die Energie also wiederum Stoff erzeugt. Dieser Vorgang ist nicht sichtbar zu machen, er ist errechnet und unvorstellbar. Und doch beginnt zugleich mit der Errechnung die neue Möglichkeit der Vorstellung. So las man im Freiburger Bild Verwandlung von Energie in Formgestalt ab und hierbei stellte sich die Tollkühnheit ein zu fragen, ob nicht so, eben so und nicht ›panisch‹ die Natur wieder im Kunstwerk anfinge sichtbar zu werden. Nicht als Dargestelltes, je von bekannten Naturdingen Getragenes, nicht als Assoziation im Vexierspiel der Formen, sondern direkt, ganz direkt optisch ablesbar, indem die potentielle Energie der Spannungen selbst ein Gleichnis zur Natur sei. Potentielle Energie ist nicht funktionelle Energie, nicht mechanisch zu erfassen. Dividiere ich als Künstler Funktion durch Fläche – ein bisher unbekannter Vorgang, den nur Cézanne erfaßte, den man ja heute ungegenständlich zu sehen gelernt hat –, so entsteht in dieser Division potentielle Energie. Fordert [stellt] die Fläche nun ihre Forderung nach Aufhebung vom Grund und Aufgemaltem (und dies ist die eigentliche Fläche der Malerei), so kehrt Substanz zurück. Substanz vom bildnerischen Gestalten her erzeugt.
Ich schreibe dieses auf, weil es mir selbst als außerordentliches Rätsel vom Freiburger Bild entgegenleuchtet, Rätsel, weil es ohne meine Erkenntnis entstand. Denn ordne ich die Fläche, geschieht ja etwas von der Erkenntnis her. Gibt aber die vom bildnerischen Geist geordnete Fläche als Division von Formen und Fläche Substanz heraus, bleibt das Rätsel erst recht ein Rätsel.
Die Ähnlichkeit jener Vorgänge als Bild beschäftigte die Naturwissenschaftler, die Ähnlichkeit mit den Vorgängen, die man jetzt Natur nennt. ›Jetzt‹ hieße also, daß das Bild gegenwärtigste Gestaltung sei.
Das Mikroskop zeigt die Verwandlung von Kristallen durch Erhitzung in Flüssigkeit, durch Abkühlung in Kristalle. Man zeigte mir den Verwandlungsvorgang auch ohne Erhitzung, man zeigte mir auch die Verwandlung von Flüssigkeit in Kristalle. Verwandlung von Stoff durch Energie in anderen Stoff. Und man sagte mir, daß eben nach jenen 20 Jahren der ›klassischen Physik‹ man die Materie aus der Energie wiederfindet – neu findet.
Vorsicht vor zu schnellen Schlüssen. Denn das optische Erlebnis des Bildes ist nicht das Erlebnis der Darstellung, sondern das des Sichtbarwerdens des Geschehnisses. Und darüber hinaus scheint – welch Witz menschlicher Erfindungsgabe – das Bild eine Art Apotheose dieser Verwandlung von Energie in Materie (bei vorausgegangener Verwandlung von Materie in Energie) bereits zu sein – eine Apotheose der potentiellen Energie.
Ob so die Natur wieder ins Bild kommt? Oder ist der letzte Satz ganz falsch? Sondern [doch] so ist Natur im Bild für die Menschen unserer Zeit und in Zukunft, wobei der Zukunft obliegt, eine neue Sensibilität zu erzeugen.