20.10.1956

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Aus einem Brief an Michael Hertz

[…] Beiliegend zwei Fotos des Freiburger Bildes, das eine, um die Größe sichtbar zu machen, mit einem Betrachter. Angaben auf der Rückseite der Fotos. Obwohl ich weiß, daß Fotos wenig aussagen, meine ich, daß bei einiger Kenntnis meiner Kunst und öfterem Ansehen aus den Fotos vieles herauszulesen ist. So groß das Bild ist (2,55 x 6,55 m), Leinwand auf Keilrahmen, so dicht ist es gemalt, das ist bemerkenswert, da oft solch große Bilder heutzutage ins Monströse gehen. Zweitens ist es keine Vergrößerung eines Entwurfes, sondern entspricht dem Format! Drittens ist es nicht additiv, d.h., so lang das Format ist, so ist eine Aneinanderreihung von Formvorgängen vermieden, es ist eine einzige zugleich sichtbare Fläche. Da das Bild ungeheuer intensiv ist, ohne expressiv zu sein, wirkt es ausgesprochen als Merkwürdigkeit.

Ab 15. November wird es in Freiburg im Vestibül des Chemischen Instituts, Hebelstr. 7, zu sehen sein.

Es ist sehr frei gemalt, doch hieße es, diese Freiheit mißverstehen, wollte man darin ›peinture‹ sehen. Der eigentliche Witz ist die bis ins Kleinste gehende Poetisierung der ›potentiellen Energie‹, d.h., daß dieses Bild die dynamisch-kinetischen Scheinsetzungen, wie sie in der Gegenwart bekannt sind, durch die poetische Setzung der inaktiven Energie, durch Spannungen an sich, ablöst und offensichtlich diese ganz neue Erfindung zugleich zu verherrlichen scheint.

Der Bau des Bildes, der Grundriß ist folgender:

I.     Vier Farben: Coelin-Blau, Kobalt-Blau, Ultramarin-Blau, Pariser-Blau.
II.   Drei Farben: Zinnober-Rot, Orange, Zitron-Gelb.
III. Zwei Farben: das Gegenpaar Violett und Chromoxyd-Grün-Feurig.
IV. Eine Farbe: Grau.

Damit geht folgendes vor sich:

Rot. In der Mitte des Bildes ist eine rote Leere. Das Rot figuriert als große Fläche in der Mitte und geht in Scheiben von links oben und rechts oben zur Mitte unten, allerdings nicht in geometrischem Lineament, sondern in freien, rhythmisch gesetzten Punkten.

Gelb. Der Weg des Gelb geht anders: oben und unten und in der Mitte und die Ecken links unten und rechts oben bestehen aus größeren gelben Komplexen. Versetzte kleine gelbe Scheiben überziehen die ganze Bildfläche im Sinne der Linien.

Blau und Grau. Zwei Komplexe: rechts auf drei helleren Blaus (Kobalt-Blau, Coelin-Blau, Ultramarin-Blau) sitzen Pariser blaue, also dunkelblaue Scheiben. Links ist die Sache umgekehrt (Krebs sagt der Musiker). Auf dunkelblauen Grundformen hellgraue Scheiben.

Klammern.

Also im Ganzen: Die Spannungen entstehen durch statische Bestimmung der Fläche aus der Farbe, nicht durch Gestik, Scheinbewegungen. […]

Über den Autor

von E.W.Nay