23.6.1956

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Aufzeichnung vom 23.6.1956

Nehmen wir an, eine gewissenhafte Kunstöffentlichkeit sähe in meinen Bildern ein farbiges System, dem ich als einer prädeterminierten Methode folge. Nehmen wir dann an, daß man dies Folgen und das Buchführen dieses Systems nicht als exakt genug, nicht als konsequent genug ansähe, so würde ich für diese Inkonsequenz deshalb plädieren, weil die exakte Konsequenz zur Kinetik führt. Die einwandfreie Konsequenz würde den Weg von der Materie zur Funktion von der Funktion zur Mechanik, von der Mechanik zur Kinetik beschreiben. Der eine, einzige Hauptwert der Flächenkunst der Malerei, die Fläche als Gestaltungswert, wäre dann unberücksichtigt. Die Fläche wäre dann nur der Grund für einen solchen kinetisch-mechanischen Vorgang.

Die Fläche aber selbst ist das eigentlich zu Formende. Sie ist statisch und die Farbe ist statisch. Dividiere ich das Kinetische durch das Statische der Fläche und der Farbe, durch die statische Relation Farbe zu Fläche, so verwandelt sich der Grund zur gestalteten Fläche. Dieser Vorgang ist daran zu erkennen, daß die Fläche quillt – ohne plastisch illusionär zu werden. Es entsteht die Aufgabe, in Anerkennung und Setzung von negativer und positiver Form eine Fläche zu erwirken, die als eine geistige Fläche anzusehen ist und so zu benennen.

Ich habe damit die materiell – also funktionell – kinetisch bestimmte Situation verlassen und die Möglichkeit einer geistigen Setzung entwickelt.

I. Die Fläche als Ganzes ist das zu Formende.
II. Die bildnerische Aktion wird durch die Relation Farbe zu Fläche bestimmt.
III. Die Farbe – als Relation von Farbe zu Fläche Gestaltfarbe genannt – entwickelt sich statisch in Punkten, dynamisch in einem für jedes Bild erfundenen, chromatischen Satz, der für die Gestaltung der Fläche bindend ist.

Dieser chromatische Satz ist ein artistischer.

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von E.W.Nay