26.3.1955

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Ansprache aus Anlaß der Verleihung des Lichtwark-Preises
der Stadt Hamburg, als Manuskript gedruckt vom Verlag
Dr. Ernst Hauswedell, Hamburg 1955

Für die hohe Ehre, die meiner Kunst durch die Verleihung des Lichtwark-Preises zuteil wurde, sage ich der Freien und Hansestadt Hamburg meinen aufrichtigen Dank. Ich glaube auch, meinen Dank damit abstatten zu können, daß ich mir erlaube, Ihnen einige Gedanken aus der geistigen Werkstatt meiner Malerei mitzuteilen. Wenn auch die Bilder ihre Sprache sprechen, wird der Künstler doch bei einem so hohen Anlaß nicht umhin können, einige Worte hinzuzufügen.

Über die Konzeption meiner Kunst, wie sie sich entwickelt hat und was sie ist, möchte ich sprechen.

Die Entwicklung der Kunst eines Einzelnen weist ja Stationen auf, deren Folgerichtigkeit nicht so sehr von der äußeren Erscheinung der Bilder bestimmt wird, als von der Folge der bildnerischen, hinter der äußeren Form wirkenden Ereignisse. Es gibt Künstler, in deren Anfangsbildern Stil festgelegt ist, der – sich nicht mehr ändernd – zur Reife treibt. Es gibt andere Künstler, deren Anfang völlig unbedeutend und aussagelos ist, die später ihre Konzeption finden, es gibt solche, die im Anfang in unentwickelter Weise die Konzeption halb verborgen anschlagen und sie erst in langer Arbeit auf scheinbaren Umwegen erreichen, die rückblickend dennoch den roten Faden enthielten. Es will mir scheinen, als sei dies bei mir der Fall.

Es ist wohl so, daß man um die 20 herum das erste Wichtige tut, ohne zu wissen, was es ist, Mitte 30 das zweite Entscheidende, d.h., daß man dann die Himmelsrichtung hat und zwischen 50 und 60 das endgültig Entscheidende.

Im Anfang meiner Kunst steht das ›Bildnis F. R.‹ von 1925, hier in der Hamburger Kunsthalle, autodidakt gemalt, vor dem Besuch der Akademie. Das frühe Bild des 23jährigen erweist sich heute, verglichen mit meinen letzten Bildern, als ein Bild, das die wesentlichen Anlagen meiner Kunst bereits geprägt enthält. Schon in jenem Bild ist die farbige Arabeske nicht nur irgendwie da, sondern sie ist im gleichen Sinn geordnet und in der Fläche unterteilt wie in den neuesten Arbeiten. Die chromatische Ordnung der Farbe, in Gruppen ähnlicher und andererseits kontrapunktisch zueinander stehender Farben, die Farbe selbst als ein Gesetz tragendes Gestaltungselement, den Ausdruckswert der Farbe negierend, das Ganze verbunden im einfachen Rückbezug zum Erscheinungsbild, so steht dieses Bild als Auftakt im Anfang meiner Kunst. Wie nun aus jener Arabeske sich die Hieroglyphe, das Dingzeichen, aus jenem die freie, erfundene, farbige Form, die selbstgesetzte Welt der bildnerischen Ereignisse sich ergab, das zeigt die Entwicklung meiner Kunst. Von 1936 bis 39 die Fischerbilder, die Lofoten-Bilder, Bilder, in denen die Hieroglyphe, das Dingzeichen ganz betont das Dynamische statt des Statischen aussagt, das Dynamische als neue Ordnung der Bildfläche, in die der Rhythmus einwirkt. Noch einmal in den Hekate-Bildern 1945 bis 48 wird die Frage gestellt, ob auch jetzt noch die dingliche Welt bezogen auf die Flachkunst Sinn, mythische Bedeutung herzugeben vermag. Doch jenes Wort »Du sollst dir kein Bildnis machen« rückt näher. Still, von selbst entwickelt sich sozusagen unter der Oberfläche der Hekate-Bilder ein neues, sich immer selbständiger verhaltendes Vokabular der Formen und Farben. Die Entwertung des Lebens bedurfte einer härteren Gegenüberstellung von Bild zu Mensch und Raum, um das Humane, den Wert des Lebens wieder auffinden zu können. Jede Art, den Raum als Fläche darzustellen, erwies sich als zu weich, um dem Unhumanen standzuhalten. Auf dem Wege der unserer Zeit bestimmten Auflösung der Polarität Ich und Welt habe ich mein Talent mehrmals dem härtesten Druck ausgesetzt, um eines bildnerischen Tuns willen, das ohne eigentliche Willensanstrengung, aber in ganzer Begeisterung sich mit der Erkenntnis zum Bildwerk zusammenschließen konnte. Bis dann jene blühenden Bilder der letzten Zeit entstanden, die ein neues Lied der Unbefangenheit singen. Diese Unbefangenheit beruht eigenartiger Weise darauf, daß ich in meiner Kunst nicht vom Unbewußten getragen werde, sondern von dem Bestreben, das Bewußte über das Intellektuelle, über das Rationale hinaus zu steigern, zu einer Bewußtseinsstufe, in der Erkenntnis intuitiv wirkt. Nichts, so scheint mir, kann man wohl mit Recht als eine betontere Achtung vor der weiterhin wirkenden Kraft des europäischen Geistes ansehen.

Nun die Konzeption selbst: Nicht die Technik ist es, die eine vollkommen andere Situation der Proportion Mensch zu Raum geschaffen hat, sondern der denkende Mensch, der uns sagt, daß Raum für uns nicht mehr vorstellbar, daß Raum nur denkbar sei. Im Universum ist jeder Punkt Mittelpunkt.

Dieser Raum ist nicht meßbar, er hat Dimensionen, die wir nicht kennen, er ist nicht überschaubar, nicht darstellbar, also aperspektivisch. Der Mensch in Proportion zu jenem Raum, wie er sich bisher vorstellbar im Meßbaren fand, ist nicht mehr in Beziehung zu setzen zu jenem unvorstellbaren Raum. Ist der Mensch deshalb fort? Zieht er sich in die Fürchterlichkeit des Unhumanen zurück, standpunktlos wie jener unvorstellbare Raum, oder zieht er sich in die subjektive Welt seiner Empfindungen zurück, jetzt wo er, wie es scheinen muß, nicht mehr zur Verwirklichung aufgerufen ist? Oder ist der Glaube des Menschen an seine Verwirklichung stark genug auch in dieser Unvorstellbarkeit sich aufgerufen zu wissen als Verwirklichender des Universums, das Universum wiederum anrufend als das vom Menschen her zu Ergänzende?

Das Thema des Menschen heißt Verwirklichung. Verwirklichung vollzieht sich zum Sinne der Ergänzung des Universums durch den Menschen, der Ergänzung des Menschen durch das Universum. Kulte, Riten und Opfer tragen diesen Sinn. Diese Ergänzung macht sich der Mensch durch Symbolhandlungen erkennbar. Die eine Symbolhandlung ist seine ständige Befragung der Proportion Ich zu Welt oder Mensch zu Raum, die zweite Symbolhandlung ist die Gestaltung als Kunst. Das will heißen, der Mensch als Erkennender dieses Geschehnisses der Verwirklichung hat die Möglichkeit, von den Sinnen her jene Verwirklichung Tat und Gestalt werden zu lassen, gestalthaft sichtbar zu machen. Von den Sinnen her, indem er das Wort, den Ton in der Musik, die Fläche in der Malerei, die Raumform in der Plastik und Architektur zu jeweils dem Mittel der Kunst eigenem Tun anregt und zur Gestalt erhebt.

Um dieses Thema, wie es sich heute in der Gegenwart darstellt, deutlich zu machen, will ich eine Andeutung über das gleiche Thema in der griechischen Antike voransetzen, zumal dieses antike Thema der Allgemeinheit das tragende und gültige noch heute zu sein scheint. Die Akropolis, ein Bau im Sinne der harmonischen Proportionen des menschlichen Körpers, steht in einer Landschaft, die durch diesen Bau dem Betrachter im Anschauen zu jeder Tageszeit gegliedert und geordnet scheint, so daß der dort oben Stehende im Anschauen ein Sinnbild der Harmonie seiner Proportion Mensch zu Raum erlebt, anschauend ein Sinnbild des vorstellbaren Raumes in der Ordnung und Harmonie, zugleich wissend, was Pflanze und Eidechse sei, d.h. deren mythischen Bezug zum Menschen herstellend, aus der Harmonie des Baus, der wohlgeordnet in der unsichtbaren Ordnung der Wiesen steht, also daß auch jene unsichtbare Ordnung sichtbar wird. Das ist eine Verwirklichung.

Herausgreifend aus diesem Halbkugelraum der Antike erweiterte der Mensch später den vorstellbaren Raum durch Zuhilfenahme von Anatomie und Perspektive. Raum und Mensch werden dem Denken im Meßbaren eingefügt. Der vorstellbare Raum wird als meßbarer erweitert, und Anatomie und Perspektive sind Symbolhandlungen des Meßbaren.

Wie stellt sich nun die Frage nach der Verwirklichung heute? Und zugleich die Frage nach der Verwirklichung der Malerei? Ich sagte, der Raum sei uns Heutigen unvorstellbar, denkbar allein in Dimensionen, die sich uns entziehen. Ich sage, der Mensch sei angelegt, zu einem Raum Proportion zu bilden, sich zum Raum verhalten zu können, um sich als Mensch in geistiger Gestalt zu wissen, sich als Mensch zu verstehen. Verwirklichung also. Wie sieht das in der Kunst der Malerei aus? Was mußte geschehen, um den Einklang des Themas Mensch und Raum wiederherzustellen? Denn das Anliegen des Künstlers ist je und immer diese Wiederherstellung, besser gesagt eine neue Aufstellung, eben eine Konzeption.

Aus erworbenem Gut, erworben in der Entwicklung meiner Kunst, ergibt sich mir folgendes:

Das Bild bezieht eine neue Position. Das Bild vollzieht einzig Begehung der Fläche, wenn Raum und Mensch nicht darstellbar sind. Auch so und jetzt geht es um Verwirklichung. Das bedeutet, es geht um direkte verwirklichende Gestaltung. Nichts Hintergründiges, schon gar nichts Subjektiv-Hintergründiges ist in jenem Bilde verborgen, verschlüsselt. So, wie es ist, ist das Bild als Tatsache Gestaltung. Der aus der Wagner-Zeit unseligerweise herübergerettete Begriff ›Verschlüsselung‹, der bedeutet, daß Gefühle, Stimmungen, Genüsse oder Privatleben im Kunstwerk verborgen seien, damals gegenständlich assoziiert – heute sollen diese Dinge in der gegenstandslosen Form enthalten sein –, ist endgültig abzuweisen, da damit das eigentliche Kunstverständnis, das Verständnis für die bildnerische Gestaltung, nicht im Geringsten berührt, ja verhindert wird. Das Bild vollzieht Begehung des Flachraums. Das ist seine neue Position. Es ist also die Fläche selbst, die das Bild bedeutet. Fläche, mathematisch gesprochen, ist eine Ebene, mit einer Farbe betupft, wird diese Ebene Grund. Grund, wo kein Grund ist, da Raum, wo Grund sein könnte, unvorstellbar ist, kann nicht Grund sein. Fläche ist als gestaltete Fläche über den Grund zu erheben. Um Fläche selbst zu begehen, sie gestaltend zu begehen, bedarf es einer das nicht zu bestimmende Verhältnis Mensch zu Raum einkreisenden Methode. Einer Methode, die sich zur Fläche verhält, einer Methode, deren Satztechnik zur Fläche steht, einer Grammatik, deren Syntax die Fläche ist. Was ist hier Satztechnik? Satztechnik ist die Betätigung einer Methode im Bereiche eines Kunstmittels. Hier ist Satztechnik die Satztechnik der Gestaltfarbe. Sie gibt der Fläche das Thema des Begehens, Orientierung des Begehens der Fläche im Sinne einer Symbolhandlung für die Begehung des unvorstellbaren Raumes. Farbe, der assoziativen und psychischen Bewertung entkleidet, nenne ich Gestaltfarbe. Wir wissen heute, daß psychische Bewertung der Farbe gar keinen Anhalt für die Farbe bietet. Das Gelb als Gold – die Krone, das Gelb – der Thron, dann die Quarantäne-Flagge, die Kleidung der buddhistischen Mönche. Man kann also jeder Farbe jeden psychischen Wert zuordnen, so daß sich daraus objektiv für die Gestaltung eines Bildes nichts ergibt. Mit der Gestaltfarbe ist die Fläche des Bildes zu begehen. Dieses Begehen der Fläche ist allerdings ein simultaner Vorgang, denn der Betrachter, der jene Fläche sieht, hat zugleich ein Ganzes vor sich. Andeutend nur gebe ich dazu die einzelnen Veranstaltungen an, die in der Satztechnik zusammengefaßt sind. Die Farbe als chromatische Reihe, punctum contra punctum gesetzt, Farbe und Form, die Fläche integrierend. Dabei wird Funktion bedeutsam. Funktion ist materiell. Funktionen zueinander gebunden ergeben Motorik, die Motorik verwandelt in Integration zur Fläche eines Bildes die Funktion in das Geistige, das sich als dynamisch bewegte Fläche vollzieht. In das Dynamische wirkt der Rhythmus ein. In der Verknüpfung dieser Wechselwirkung zur Fläche kehrt die Fläche in ihre statische Grundgestalt zurück.

Mit dieser Satztechnik, die begrenzte Fläche orientierbar macht im Sinne des Begehens des unvorstellbaren Raumes, geschieht die Verwirklichung, gesetzt für eine neue Proportion Mensch zu Raum.

Die Satztechnik der Gestaltfarbe, die sich mit der mir angeborenen Farbbegabung zu neuer Unbefangenheit verbunden hat, ist das Wesentliche meiner Kunst, eine Verwirklichung, derentwegen ich dieser hohen Auszeichnung würdig zu sein glaube.

Wenn immer bruchlos vollzogen, steht eine solche Bruchlosigkeit der Form, eine solche Kontinuität der Form für Heilung.

Bilder fügen dem Weltganzen ein Gran Liebe hinzu.

Über den Autor

von E.W.Nay