Aus einem Brief an Will Grohmann
[…] Sie fragen einmal persönlich, einmal in der Zeitung, einmal über den geliebten unbekannten Äther eine tiefe Frage der Zeit. Schon aber las ich die Gegenfrage in einer Zeitung: Habt Ihr nun Angst, Lebensangst, oder nicht! – Kunstwerk als Inhärenz oder Prädikation, als Tatsache oder Aussage? Für meine Kunst und von mir aus, für mich, sage ich: Tatsache, lehne damit Aussage als Ziel, wenn Sie dies Wort vorsichtig nehmen, des Kunstwerks ab. Aber was geschah dazwischen? Von der Leinwand bis zum Bild! Ist da Freiheit zum Leben oder Qual und Flucht? Entzieht sieh das ›Kunstwerk als Tatsache‹ dieser Frage oder nicht. – Manisch-depressiver Mensch, zur Neurose gesteigert – deutlicher Gegenwartstyp einerseits – Kunstwerk als Tatsache, davon also keine Notiz nehmend – andererseits. Wie geht das! Ich hätte, sagt Ernst Jünger in den ›Strahlungen‹, das Sigillum der Zeit: Bewußtheit und Primitivität – alogische Kombination. Man muß also alogisch – ganz anders – fragen: Warum ist Angst und wird nicht sichtbar – obwohl ein gültiges Kunstwerk als Tatsache offensichtlich an nichts vorbeigeht? Wie geht das vor sich, daß Angst sich sublimiert? Der Mainzer Psychologe Bilz formuliert folgendermaßen:Bisherige und allgemein noch gültige Vorstellung vom Menschen: der Mensch ist ein rationalvitales Wesen. Gegenwärtige Vorstellung funktionell: Emotion führt zum Affekt, die im Affekt aktivierte Emotion führt zur Vitalrolle, diese wird von der Ratio kontrolliert. Polarität ist aufgehoben, die Komponenten sind gewichtlos – funktionell gesetzt.
Mein Gedanke zur Gegenwart, zum Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: – der Funktionalismus schlägt um, der Ort des Kunstwerks von heute, der Weg von Leinwand zu Bild wird sichtbar. Funktionalismus – Prozeß des Bildes, der sichtbar gemacht wird, dann Gestaltform des Bildes aus der Gestaltfarbe. Farbe als Gestaltfunktion des Bildes durchläuft von selbst den umgekehrten Weg: Ratio, Vitalrolle, Affekt-Emotion. Das lebendige Bild – direkteste Tatsache, autonomes Kunstwerk – zugleich Leben – eigentliches Leben, vor allem des Künstlers. Zwischen Leinwand und Bild geschieht eine Umkehrung. Das Malen als Therapie vollzieht sie. Die psychoanalytische Ausdeutung des Bildes ist unnötig geworden – überflüssig. Das Bild als Tatsache des Lebens, nicht Ausdeutung, ist Gleichnis gegenwärtigen Europäertums, nachdem dieses seine Aggression und Aktivität aufgegeben hat. Zu bemerken, daß die Psychoanalyse sich zur Psychophysik entwickelte, daß Religion genau definiert ist als Gesetzerfüllung, Kult. Unwirksam. Dagegen das Motorische – mit dem Wort Religiosität zu umschreiben. Die Technik auf der Kulmination vom feindlichen zum freundlichen Wert.??? Fragezeichen. Naturwissenschaft von der exakten Forschung umkehrend zur Kombination. Kulturmorphologie – Frobenius-Institut – bei der Frage, ob der Mensch als Hochform a priori vorhanden war. (Hochgott-Religionen bei den Frühvölkern). Noch alles Fragezeichen, aber immerhin.
Umkehr des Funktionalismus, leicht auffangbar von fürchterlichen Kerlen.
Bilder als Geschehnisse der Freiheit von allem zu allem, Tatsachen ohne Ausdeutung. –Gedanken, die als Versuch einer Antwort anzusehen sind, Andeutungen, Gesammeltes, Gestammeltes […]