21.9.1939

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Aufzeichnung vom 21.9.1939

Nicht eher an die sichtbare (reale) Natur herangehen, ehe nicht die umfassende Schau sich entwickelt hat.

Wie selbstverständlich geht dieser Weg bei den Franzosen vor sich. Der junge Künstler folgt erst ganz dem Meister, kopiert ihn sogar, bis sich die eigene Welt, die Schau meldet, dann geht er an die eigene sichtbare Welt.

Der deutsche Künstler steht ohne Tradition immer für sich, muß immer wieder von vorn beginnen. Der realistische Anfang, ohne Lehre, die Lehre, die ihn nicht wesentlich vorwärts bringt, weil sie zu sehr auf der Individualität des Lehrers beruht, der wieder von sich aus entwickelt hat. Die Entdeckung des Selbst, die zwangsläufig dem Lehrer entgegengesetzte Wege gehen muß, die reine mystische Form, die bis zur Mystik erhoben werden muß, und dann kommt der Zeitpunkt, wo von dieser mystischen eigenen Schau die sichtbare Natur, die Realität, Schau zu werden vermag.

Dies war mein Weg bisher, und nun als 37-jähriger, meine Schau in mir, mag der dritte Weg, die Zusammenfassung beginnen.

Der Stil, Linie und Fläche als Ausdruckskunst, Realität und Mystik als eines, die mythische Wirklichkeit. Dies ist keine Symbolkunst, denn Form, Formwille des Künstlers und Idee sind willig eins – wie in der Mystik –, die Kunst strebt zur höchst erreichbaren Souveränität. Inhalt ist Form zugleich, zugleich Ausdruck, es entsteht kein Stil, der etwa das Rezept vom Malen bilden würde. Alles ist eine Einheit, das Formbilden des Künstlers, der künstlerische Wille, ist ebenso Inhalt, wie der Ausdruck, wie das zugrunde liegende Motiv. Und es entsteht die Kunst, die Malerei, deren Sinn ist und bleiben wird: Gott zu werden ohne Titan zu sein.

Die Gestaltungsprinzipien (Grundprinzipien) der Malerei:

1) Fläche, in der der Raum eben die Fläche bedeutet, die illusionistische Raumvorstellung Bildraum ist die imaginäre, die sich aus der Fläche mitteilt, also deutlich im Gegensatz zur dreidimensionalen Gestaltung der Illusion.

2) Spannung der Fläche (nicht Füllung), d.h. Dynamik, Bewegung, Rhythmus, aus der Farbe entwickelte Gesetzmäßigkeit, polyphon aufgebaut. Im Sinne der Fuge.

3) Fläche und Linie als Ausdrucksmittel, mythische Hieroglyphe, Zeichen, das bedeutet, nicht ist.

4) Licht als Begleitform der absoluten Farbe, die absolute Farbe, die Flächenfarbe, die den Raum der Malerei sich unterwirft (nicht den Illusionsraum). Sie geht voran, Licht entsteht aus ihr, nicht aus dem Licht die Farbe.

5) Farbiger Bau; das Polyphone so organisiert, daß warme und kalte Farbkomplexe nicht abwechseln, sondern in großen Komplexen (die einen kalte Töne enthaltend, die anderen warme) Grundmotiv werden (im Sinne der Fläche, nicht der Illusion/Perspektive). Verbindende Farben, neutrale, im Bild als wiederkehrende, etwa vergleichsweise wie Bänder. Blau durch Blau höhen, Rot durch Rot, Gelb durch Gelb; hierbei z.B. Grün oder Grau als neutrale Farben. Die Farbe, die dem Illusionsraum angehört, [die] Farbe des Himmels z.B., an anderer Stelle des Bildes wiederkehren lassen, um den imaginären Raum der Malerei zu erhalten! Oder z.B. ein polyphones Bild, durch das eine graue, Rhythmus betonende Linie in vielen Tonwerten sich hindurchzieht.

Über den Autor

von E.W.Nay